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Gehirnscans sollen Verbrecher verraten  
  Kann das Gehirn eines Menschen seine Veranlagung für Verbrechen verraten? Einige Neurobiologen halten das für möglich. An einer deutschen Universitätsklinik werden deshalb seit einigen Wochen die Gehirne von Straftätern mit bildgebenden Verfahren untersucht. Ihren prognostischen Wert bezweifelt Reinhard Kreissl vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) in Wien.  
Gewisse Pathologien seien auf den Gehirnbildern zwar zu erkennen, ihre Aussagekraft aber sehr beschränkt. "Vorhersagen über kriminelles Verhalten kann man damit keine machen", meint Kreissl gegenüber science.ORF.at.
Extrem starke oder unterentwickelte Gefühle
Die Vorgeschichte: 28 Häftlinge aus Gefängnissen des deutschen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, die zu langjährigen Freiheitsstrafen wegen Mordes, Totschlags oder Raubes verurteilt sind, sowie Patienten aus forensischen Kliniken wurden an die Universitätsklinik Rostock gebracht.

Die Männer hatten entweder Straftaten mit hoher Impulsivität verübt, oder sie gelten als Psychopathen, haben also ein unterkühltes Gefühlsleben. Sie sind, wie es Klinikchefin Sabine Herpertz gegenüber der dpa ausdrückt, "krankhaft angstfrei".

Im Versuch mussten die Straftäter verschiedene Aufgaben bewältigen, die ihr Risikoverhalten und ihre Emotionalität verraten sollten. Währenddessen wurde die Hirnaktivität in einem Kernspintomographen gemessen wurde.
Psychopathen: Bestrafungsareale wenig aktiv
Die noch nicht vollständig ausgewerteten Ergebnisse lassen bereits einige Schlussfolgerungen zu. So sind bei Psychopathen Areale, die an Bestrafung beteiligt sind, schlechter durchblutet als in der Kontrollgruppe.

"Wenn aus Bestrafung nicht gelernt wird, besteht eine hohe Wiederholungsgefahr", meint Herpertz. Für die Therapie heißt das, wenn jemand aus Bestrafung nichts lernt, sollte in der Therapie auch nicht mit Bestrafung gearbeitet werden.
Gehirnströme korrelieren nicht eindeutig mit Verhalten
Wenig begeistert von der Arbeit der deutschen Psychologen zeigt sich Reinhard Kreissl vom Wiener IRKS gegenüber science.ORF.at: "Natürlich kann man auf diese Weise Besonderheiten oder Unterschiede in den Gehirnaktivitäten feststellen. Aber diese korrelieren nicht eindeutig mit kriminellem oder abweichendem Verhalten."

Als Beispiel zitiert er eine aktuelle Studie über die Verbreitung psychopathischer Persönlichkeitsmerkmale: Dabei wurde herausgefunden, dass die entsprechenden Merkmale nicht nur bei Gewaltverbrechern überdurchschnittlich ausgeprägt sind, sondern auch bei Managern großer Unternehmen.

"Kaltblütige Manager sind kaltblütigen Betrügern neurobiologisch sehr ähnlich. Kriminalität lässt sich aus den Gehirnströmen nicht vorhersagen", ist Kreissl sicher.
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Fernziel: Diagnose und Therapie
Herpertz hingegen betont gegenüber der dpa: "Unser Ziel ist es zu erkunden, welche Hirnstrukturen verantwortlich für Taten sein können und welche Therapien für welchen Täterkreis sinnvoll sind." Auch sie meint aber, dass die Gehirnforschung derzeit weit davon entfernt sei, Rückschlüsse auf einzelne Menschen ziehen zu können.
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In der US-Praxis: Streit der Gutachter
Ob bildgebende Verfahren einmal für die juristische Praxis wichtig sein werden, darüber herrscht bei den Experten ebenfalls Uneinigkeit. In den USA werden derartige Gehirnbilder mittlerweile im Gerichtssaal verwendet, erzählt Kreissl.

"Zumeist versucht ein Rechtsanwalt mit ihrer Hilfe auf die Schuldunfähigkeit seines Mandanten zu pochen, weil z.B. dessen Amygdala nicht ganz in Ordnung scheint. Darauf kontert die Staatsanwaltschaft oft mit einem entsprechenden Gegengutachten."

Dabei handle es sich um das "normale" Ringen um psychiatrische Gutachten, das durch die bildgebenden Verfahren lediglich ergänzt worden sei, meint Kreissl.
Einsatz in Österreich unwahrscheinlich
Dass es zu dieser Praxis auch in Österreich kommt, glaubt Kreissl u.a. wegen der hohen Kosten der Kernspintomographie nicht. Auch bei der hiesigen Justiz ortet er bei der Frage eine ziemliche Gelassenheit. Wenn es überhaupt Einsatzbereiche gibt, in denen die Gehirnbilder zur Anwendung kommen könnten, dann zum einen bei der Anamnese - also beim Beschreiben der Krankheitsgeschichte als ein Faktor neben anderen, wie z.B. der Analyse des sozialen Umfelds.

Und zum anderen bei der Sicherheitsverwahrung von Sexualstraftätern: Bei der Frage, ob sie nach Verbüßung ihrer Haftstrafen wieder "in die Gesellschaft entlassen werden dürfen", könnten sich die Behörden unter Umständen auf die Aussagekraft der Hirnreaktionen verlassen, mutmaßt Kreissl.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 11.6.08
->   Reinhard Kreissl (IRKS)
->   Arbeitsschwerpunkt "Emotion, Kognition und soziale Interaktion", Uni Rostock
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Kriminelle und die DNA: Das "Geschäft" wird härter (20.7.07)
->   Mit Hilfe von Hirnströmen auf Verbrechersuche 6.7.06
 
 
 
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01.01.2010