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Leonard Bloomfield und Wien  
  Leonard Bloomfields Buch "Language"(1933) ist ein Klassiker der Sprachwissenschaft, der nun erstmals in deutscher Übersetzung erscheint. Im Zuge der Übersetzung hat der Germanist Peter Ernst herausgefunden, dass den amerikanischen Linguisten zahlreiche biographische Fakten mit bedeutenden Persönlichkeiten des Wiener Kulturlebens verbinden.  
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Buchpräsentation
Die deutsche Erstausgabe des Buches von Leonard Bloomfield "Die Sprache" übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Peter Ernst und Hans Christian Luschützky unter Mitwirkung von Thomas Herok ist in der Edition Praesens erschienen.

Präsentation: 18. Juni 2001, 18.00 Uhr im Jüdischen Museum Wien

Der Herausgeber, Univ. Prof. Peter Ernst, beschreibt ist seinem Text für science.orf.at die überraschenden biographischen Verbindungen Leonard Bloomfields mit Wien. Ein Beitrag zum europäischen Jahr der Sprachen.
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Bloomfield: Ein altösterreichischer Amerikaner
Ein Originalbeitrag von Peter Ernst

Leonard Bloomfields Klassiker "Language" stammt aus dem Jahr 1933, ist also bereits 68 Jahre alt. Es kommt nicht oft vor, dass ein geisteswissenschaftliches Werk im siebenten Jahrzehnt seines Bestehens kaum veraltet ist.

"Language" ist auch heute noch nicht nur eines der meistzitierten Werke über Sprache und Sprachwissenschaft, sondern es wird in der Linguistik immer noch als Handbuch oder Nachschlagewerke verwendet.
Nachholbedarf
Leider wurden seine Grundsätze nie konsequent auf die deutschen Sprache angewandt. Dies ist umso bedauerlicher, als Bloomfield, dessen Familie altösterreichischer Herkunft war und der Deutsch wie seine Muttersprache beherrschte, als ausgebildeter Germanist das Deutsche in seinem Werk besonders ausführlich behandelt. Vielleicht kann die nun präsentierte deutsche Erstausgabe dazu beitragen, das Versäumte nachzuholen.
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Wegbereiter der Generativen Grammatik
Der US-Amerikaner Leonard Bloomfield (1887-1949) ist einer der bedeutendsten Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Er kann guten Gewissens als der Wegbereiter der Generativen Grammatik bezeichnet werden, denn sein Schüler Zellig S. Harris (1909-1992) ist selbst wieder der Lehrer von Noam Chomsky (geb. 1928), dem Begründer der Generativistik.
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Kontakte mit dem Wiener Kreis
Im Zuge der Arbeiten an der Übersetzung wurden nun einige Anknüpfungspunkte zwischen Leonard Bloomfield und bedeutenden Wiener Familien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gefunden, die in dieser Weise bisher nicht bekannt waren.

Leonard Bloomfield hatte in der 30er-Jahren Kontakte mit dem Wiener Kreis und deren bedeutendsten Vertreter, vor allem mit Otto Neurath und Rudolf Carnap.
Encyclopedia of Unified Science
Der Kontakt war durch Charles William Morris hergestellt worden, der heute allgemein als Begründer der Semiotik gilt; er half Carnap, 1936 in die USA zu emigrieren. In diese Zeit, d.h. den Anfang der 30er-Jahre, fiel die Vorbereitung des riesigen Projekts der "Encyclopedia of Unified Science", für das Morris eng mit Rudolf Carnap und Otto Neurath (dem Hauptherausgeber) zusammenarbeitete.

Es handelt sich dabei, etwas verwirrend, um eine Buchreihe, die ursprünglich auf 270 Einzelbände (!) konzipiert war, von der aber dann nur 2 Bände (Volumes) mit je 10 Teilbänden erschienen. An diesem Projekt arbeitete eine Reihe der bedeutendesten Wissenschaftler der Zeit mit, u.a. Otto Neurath, Niels Bohr, John Dewey, Bertrand Russell, Rudolf Carnap, Roman Jakobson, Charles W. Morris und eben Leonard Bloomfield.
Martha Tausk und die 'Fackel'
Im Zuge des (unveröffentlichten) Briefwechsels zwischen Leonard Bloomfield und Otto Neurath erscheint nun eine gemeinsame Vertraute und bisher nicht bekannte Verwandte Bloomfields, nämlich die Wienerin Martha Tausk geb. Frisch (1881-1957).

Ihre Eltern besaßen ein Papiergeschäft, eine Buchdruckerei und einen Verlag auf dem Wiener Bauernmarkt. Im Verlag Moritz Frisch wurde die "Fackel" von Karl Kraus gedruckt, zumindest der erste Jahrgang, bis sie Jahoda & Siegel übernahm.

Moritz Frisch und sein Sohn Justinian führten sogar mit Karl Kraus einen Prozess um den Namen "Fackel", in dem sie aber unterlagen, allerdings erschien die berühmte Zeitschrift dann nur mehr ohne das bekannte Signet.
Arbeiter- und Frauenbewegung
Die Familie Frisch gehörte zum liberalen Bürgertum und hatte gute Kontakte zu den großen Intellektuellen ihrer Zeit, so zu Otto Neurath und anderen. Moritz Frisch war einer der Gründer der Druckerei der "Arbeiter-Zeitung", die Mutter gehörte dem Vorstand des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins an; durch sie wurde Martha frühzeitig in die Arbeiter- und Frauenbewegung involviert.

Sie wirkte dann als Sozialdemokratin und als eine der ersten Frauen in verschiedenen politischen Gremien der Ersten Republik, u.a. von Mai 1927 bis November 1928 im Bundesrat. Nach dem "Anschluss" emigrierte sie in die Niederlande.
Victor Tausk
Ihr Mann, von dem relativ früh geschieden wurde, war Victor Tausk (1879-1919), Mitglied der Freud'schen Mittwoch-Gesellschaft und einer der ersten Schüler Sigmund Freuds. 1919 verübte Tausk unter bis heute ungeklärten Umständen Selbstmord; die Ursachen dafür und die Rolle, die Sigmund Freud dabei spielte, lösten in den 80er-Jahren eine kontroversielle Diskussion aus.
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Der bereits erwähnte Justinian Frisch (1879-1949), der Bruder von Martha Tausk, war mit Auguste (Guste) Meitner verehelicht, der Schwester der berühmten österreichischen Physikerin Lise Meitner (1878-1968).

Sein Sohn und somit Neffe von Lise Meitner war Otto Robert Frisch (1904-1979), der gemeinsam mit seiner Tante an der Deutung der Kernspaltung und der dabei freiwerdenden Energie arbeitete; gemeinsam prägten sie den deutschen Begriff "Kernspaltung". Frisch arbeitet auch in den USA an der Entwicklung der Atombombe im berühmt-berüchtigten "Manhattan-Projekt" mit.
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Bloomfield und Martin Buber
Marie Frisch nun, Schwester von Justinian Frisch und somit die Tante von Martha Tausk, ehelichte Rafael Buber, einen in der Forschung eher unbeachteten Bruder von Carl Buber, dem Vater Martin Bubers; Rafael war also der Onkel von Martin Buber, seine Tochter Carola heiratete Sigmund Bloomfield, sie ist die Mutter von Leonard Bloomfield.

Daraus ergeben sich die neuen Erkenntnis zum Stammbaum der Familien Bloomfield, Frisch und Buber: Martin Buber war der Cousin von Leonard Bloomfields Mutter, oder anders ausgedrückt: Leonard Bloomfields Großvater mütterlicherseits war der Onkel Martin Bubers.
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Buchtipps
Leonard Bloomfield: Die Sprache. Deutsche Erstausgabe, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Peter Ernst und Hans Christian Luschützky unter Mitwirkung von Thomas Herok. Mit einem Geleitwort von André Martinet. Wien 2001.

Peter Ernst: Die Familienbeziehungen zwischen Martin Buber und Leonard Bloomfield. Wien 2000.
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01.01.2010