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C.S.I. Ozean: Was man über Wasserleichen (nicht) weiß  
  Im Unterschied zu Toten, die an Land gefunden werden, stellen Wasserleichen die Forensik noch immer vor große Probleme: Am und im Körper lassen sich kaum Anhaltspunkte finden, die auf Zeit und Ursache des Todes schließen lassen. Eine kanadische Forensikerin will das ändern: durch genaue Beobachtung versunkener Schweinekörper, wie der "New Scientist" berichtet.  
Belastende Fragen der Angehörigen
Schweineleichen am Meeresgrund zu beobachten, ist nicht gerade ein alltäglicher Weg, seine Arbeitszeit zuzubringen. Der Anstoß, sich auf Wasserleichen zu spezialisieren, kam denn auch von einem Polizisten, mit dem die Forensikerin Gail Anderson von der Universität Burnaby im kanadischen British Columbia befreundet war.

"Ihn belastete es immer am meisten, wenn er den Angehörigen von Toten, die an den Küsten angespült wurden, keine Frage beantworten konnte: nicht nach der Todesursache, nicht nach dem Zeitpunkt und Ort, gar nichts", erzählt Anderson im Gespräch mit dem "New Scientist" (Bd. 198, 21. Juni 2008).
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Temperatur, Maden und Pollen
Tatsächlich kann die Forensik viel über Tote herausfinden, die am Land gefunden wurden: Ist ein Mensch erst kurz tot, lässt die Temperatur der Organe auf den genauen Zeitpunkt des Dahinscheidens schließen. Wird eine Leiche erst später entdeckt, halten sich die Forensiker an die Maden und Käfer, die am und im Körper leben - damit kann der Todeszeitpunkt noch auf ein bis zwei Tage genau bestimmt werden. In seltenen Fällen werden auch Pollen analysiert, um Rückschlüsse auf den Ort des Verbrechens ziehen zu können.
->   Mit der Biologie den Mördern auf der Spur
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Ratlos unter Wasser
All diese recht ausgefeilten Technologien können bei Leichen, die im Wasser getrieben sind, nicht angewandt werden. Befindet sich ein Körper in Meereswasser, verändert sich rapide die Temperatur und auch der pH-Wert - jeder Rückschluss auf den Todeszeitpunkt wird unmöglich.

Auch Insekten und ihre Larven helfen nicht weiter: Sie findet man nur, wenn die Leiche lange Zeit an der Oberfläche getrieben hat, was selten vorkommt. Und schließlich ist es beinahe unmöglich, bei Wunden zu unterscheiden, ob sie von einer eventuellen Attacke eines Mörders stammen oder von Steinen, an denen sich die Leiche rieb.
Schweineleichen wurden versenkt ...
Anderson wollte sich mit dem Stand des Nicht-Wissens nicht zufrieden geben: Im Jahr 2000 begann sie, Schweineleichen im Meer nord-westlich von Vancouver zu versenken. Sie griff auf Schweine zurück, weil ihre Haut und Organe sowie die Bakterien, die in den Gedärmen leben, den menschlichen stark ähneln.

Anderson schickte ein- bis zweimal die Woche tauchende Fotografen vorbei, die die Veränderungen an den Körpern aufnahmen - was sich aber als zu selten herausstellte, um den Zerfallsprozess genau zu dokumentieren, wie sie im "New Scientist" erklärt.
... und mit Kamera beobachtet
Wenige Jahre später ergab sich die Gelegenheit, die Technik von VENUS zu nutzen: Dieses groß angelegte Projekt zur Erkundung der Meereswelt vor der Westküste Kanadas verfügt über eine der besten Unterwasserkameras weltweit.

Genau diese Kamera konnte Gail Anderson 2006 benutzen, um eine verrottende Schweineleiche über viele Wochen zu filmen und die Bilder für die Forensik von Wasserleichen auszuwerten.
->   Victoria Experimental Network Under the Sea (VENUS)
Tierbesiedelung auch im Wasser
Das Vorhaben zeitigte Ergebnisse: So weiß man heute, dass auch im Wasser liegende tote Körper von Meeresgetier besiedelt werden - im Gegensatz zum Land lassen diese Tiere aber das Gesicht aus, weshalb es bis zum Schluss erhalten bleibt.

Daraus könne man schließen, dass ein Mensch, der mit Verletzungen im Gesicht, aber ansonsten relativ wohlbehalten aus dem Wasser gezogen wird, höchstwahrscheinlich umgebracht wurde.

Auch der Zusammenhang zwischen Zusammensetzung des Meeresgrunds und Todeszeitpunkt wurde klarer: Liegt die Leiche auf einem sandigen Untergrund, wird sie deutlich schneller von Garnelen besiedelt als auf felsigem Boden - weil die Tiere in sandiger Umgebung leben.
"Unterwasser-Body-Farm"
Fachkollegen wie Jens Amendt vom Zentrum für Forensik der Universität Frankfurt halten Andersons Arbeit für "extrem wertvoll". Jede Bissspur, die man nun einer Krabbenart zurechnen könne, könnte zur Klärung eines Falls beitragen. Gail Anderson hofft, ihre Forschung auf andere Gewässer ausdehnen zu können, und träumt laut "New Scientist" sogar davon, eine "Unterwasser-Body-Farm" errichten zu können:

An der Universität Tennessee in Knoxville werden Leichen von Menschen, die sich der Forschung zur Verfügung gestellt haben, beim Verrotten unter verschiedenen Umständen - mit viel oder wenig Sonne, bedeckt mit Erde oder Folie - beobachtet. So etwas bräuchte es auch am Meeresgrund, um die noch immer beträchtlichen Lücken bei der Untersuchung von Wasserleichen schließen zu können.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 19.6.08
->   Gail Anderson
->   Mehr über die "Body-Farm" (University of Tennessee)
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01.01.2010