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Grammatik der Gebärden ist universal  
  Jede Sprache hat ihre Grammatik: Im Deutschen ist etwa die Satzreihenfolge entscheidend. "Hund beißt Mann" heißt eindeutig etwas anderes als "Mann beißt Hund". Diese Reihenfolge ist in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedlich. Nicht aber bei Gesten, wie ein Forscherinnenteam herausgefunden hat.  
Diese "Universalgrammatik der Gesten" habe den Beginn der gesprochenen Sprachen stark beeinflusst. Erst später hätten sich dann andere Formen der Grammatik ausdifferenziert, schreiben die Forscherinnen.
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Die entsprechende Studie "The natural order of events: How speakers of different languages represent events nonverbally" erscheint zwischen 1. und 4. Juli 2008 online in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073/pnas.0710060105).
->   Abstract der Studie (sobald online)
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Englisch, Mandarin, Türkisch und Spanisch verglichen
So international wie ihr Thema ist auch die Zusammensetzung des Teams an Forscherinnen: Susan Goldin-Meadow, Wing Chee So, Asli Özyürek und Carolyn Mylander heißen die Linguistinnen und Psychologinnen, die sich dem Reden mit Händen und Füßen gewidmet haben.

Wie ihre Namen größtenteils verraten, stammen sie aus Chicago, Peking, Istanbul und Madrid. In diesen Städten versammelten sie Testpersonen, die ausschließlich ihre Landessprache sprechen - Englisch, Mandarin, Türkisch bzw. Spanisch.

In zwei Testreihen überprüften sie die Gestengrammatik, die eine war kommunikativ, die andere nicht.
Häufigste Struktur: Subjekt-Verb-Objekt
In der ersten Testreihe bekamen die Probanden Videos zu sehen, in denen verschiedene einfache Handlungen gezeigt wurden: etwa eine Frau, die einen Drehknopf dreht, ein Mädchen, das einem Mann eine Blume reicht, und eine Ente, die zu einem Schubkarren läuft.

Dann wurden die Testpersonen gebeten, diese Tätigkeiten in ihrer jeweiligen Sprache zu beschreiben - sie brachten dabei wenig verwunderlich deren Grammatik zum Ausdruck.

Im Englischen, Chinesischen und Spanischen lautet die Reihenfolge dabei Subjekt-Verb-Objekt ("Frau drehen Drehknopf").
Bei Gesten von allen verwendet
In den sogenannten SVO-Sprachen, zu denen auch Deutsch gehört, ist diese Satzreihenfolge normal. Wie im vorigen Absatz zu sehen, kann sich das in Relativsätzen aber zu einem SOV wandeln ("Eine Frau, die den Drehknopf dreht.")

Im Türkischen ist das schon in der Grundstruktur anders, hier lautet die Reihenfolge SOV ("Frau Drehknopf drehen").

Als die Probanden aber gefragt wurden, die Videos gestisch nachzuerzählen, wählten alle die gleiche Reihenfolge, d.h. sie stellten erst das Subjekt dar, dann das Verb, und erst dann das Objekt.
Nichtkommunikativer Test brachte gleiche Resultate
Das gleiche Phänomen zeigte sich auch in einer zweiten, nichtkommunikativen Testreihe. Dabei wurden anderen Testpersonen die gleichen Videos gezeigt, diesmal mussten sie danach aber mit Hilfe von durchsichtigen Folien die Geschehnisse rekonstruieren: Pro Folie war ein Satzbestandteil abgebildet, durch Übereinanderlegen konnten die Testpersonen den gesamten Satz darstellen.

Auch hier zeigt sich bei allen Sprachen - von Englisch bis Türkisch - die gleiche Reihenfolge: Erst wurde das Subjekt ausgewählt, dann das Objekt und schließlich das Verb.
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Entspricht Beobachtungen von tauben Kindern
Die Autorinnen gehen unter Verweis auf die bestehende Literatur davon aus, dass die Struktur SVO die ursprüngliche der menschlichen Sprachen ist. Auf diese Ursprünglichkeit verweisen auch Beobachtungen bei tauben Kindern in den USA und China, die keine Zeichensprache gelernt haben: Sie entwickelten laut einer in "Nature" erschienenen Studie (Bd. 391, S. 279) ihre eigenen Sprachsysteme, denen die gleiche ursprüngliche Satzreihenfolge zugrunde lag.
->   Studie "Spontaneous sign systems created by deaf children in two cultures"
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Woher Ausdifferenzierung kommt, ist unklar
Bleibt nur die Frage: Wenn die SVO-Struktur die vorgängige ist, warum gibt es dann heute nicht ausschließlich SVO-Sprachen? (Laut den Autorinnen machen sie gemeinsam mit SOV "nur" 90 Prozent aller heute gesprochenen aus.)

Dazu schreiben die Forscherinnen: "Wenn Sprachgemeinschaften größer werden und ihre Funktionen komplexer werden, tritt verstärkt Druck auf die Sprachform auf. Manchmal kann es dazu kommen, dass die semantisch klare SOV-Ordnung abgelöst wird."
Kritik an Sapir-Whorf-Hypothese
Bleibt die genaue Beantwort der Frage somit für die zukünftige Arbeit offen, so legen sich die vier Autorinnen zumindest mit einer gleichermaßen berühmten wie umstrittenen These der Linguistik an: Laut der aus den 1950er Jahren stammenden Sapir-Whorf-Hypothese kann die Struktur einer Sprache die Art und Weise, in der ihre Sprecher denken, bestimmen oder sie zumindest beeinflussen.

Die zarte Kritik von Susan Goldin-Meadow und ihren Kolleginnen: "Der Einfluss könnte genau umgekehrt sein; die Satzreihenfolge SVO, die wir bei den nonverbalen Aufgaben beobachtet haben, kann Sprachstrukturen in ihrer ursprünglichen Stadien geformt haben."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 1.7.08
->   Susan Goldin-Meadow, University of Chicago
->   Die Sapir-Whorf-Hypothese (Wikipedia)
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   US-Blau ist anders als Russisch-Blau
->   Wie Kultur das Denken formt
->   Leben ohne Zahlen: Wie Sprache das Denken formt
 
 
 
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01.01.2010