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Attacke auf "Verbalwissenschaftler"  
  Neue Runde im Streit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften: Der deutsche Biologe Ulrich Kutschera provoziert in einem Artikel seine Universitätskollegen aus den geisteswissenschaftlichen Departements. Sie seien "Verbalwissenschaftler", die lediglich "Tertiärliteratur" produzierten.  
Bisher: Kampf gegen Pseudowissenschaften
Ulrich Kutschera ist kein Unbekannter. Der Pflanzenphysiologe von der Universität Kassel tritt in den Medien regelmäßig als Kritiker des modernen Kreationismus auf, welcher vor allem in den USA verbissen um Aufnahme in schulische und universitäre Curricula kämpft.

Seit einigen Jahren schwappt die Welle aggressiv beworbener Konkurrenzentwürfe zur Evolutionstheorie auch auf den europäischen Kontinent über, etwa in Form der Lehre vom "Intelligent Design", die sich mit (pseudo)wissenschaftlichem Vokabular schmückt, letztlich aber das gleiche Ziel wie ihre kreationistischen Derivate älteren Datums verfolgt: Sie will die Evolution durch einen "Designer" (lies: Schöpfer) ersetzen.

Auch wenn in den einschlägigen Debatten meist nur krude und/oder abgestandene Argumente verwendet wurden (à la: "Wenn ein Affe auf einer Schreibmaschine tippt, kommt auch in Jahrmillionen kein Shakespeare-Drama raus, folglich kann auch die zufällige Mutation nichts Neues schaffen"), so ist es doch gut, wenn jemand die Dinge klar beim Namen nennt und derlei Unsinn widerlegt.

Dieser Aufgabe hat sich Ulrich Kutschera verschrieben. Er erfüllt sie mit Verve und trägt seine Argumente bisweilen auch in schärferem Tonfall vor, das bringt Aufmerksamkeit und dient letztlich der Aufklärung.
Neu: GeWi-Bashing
Nun hat Kutschera einen Ausflug ins metadisziplinäre Fach gewagt und klärt die Leser des "Laborjournals" (Bd. 6/2008, S. 32) neuerdings auch über Nutzen und Nachteil der Geisteswissenschaften auf. Seine Diagnose: Diese seien quasi Blabla-Disziplinen, die sich nicht in die Belange der Naturwissenschaften einmischen sollten.

Dass der Beitrag so angriffig ausgefallen ist, lässt sich vielleicht mit einer Reizschwellensenkung durch den permanenten Clinch mit den Kreationisten erklären, denn der Anlassfall war ein relativ geringer. In der gleichen Ausgabe des "Laborjournals" hatte der Medizinhistoriker Florian Mildenberger von der LMU München die These vertreten, dass die Evolutionsforschung durch fachfremde Kritik aus dem Lager der Vitalisten und Kreationisten profitiert habe. Der Grund: Sie habe die Evolutionsforscher zum Auffüllen von Erklärungslücken animiert.

Kutschera teilt diese Meinung wenig überraschend nicht, allerdings verpasst er in seiner Antwort nicht nur (Zitat: "Ghost Scientist") Mildenberger eine ordentliche Breitseite, sondern gleich allen Kollegen aus den Humanities. Das liest sich dann so: Natur- und Geisteswissenschaften könne man auch als "Real- und Verbalwissenschaften" bezeichnen.

Erstere würden "real existierende Dinge" erforschen, im Gegensatz dazu "beschäftigt sich der Verbalwissenschaftler bevorzugt damit, das, was andere über reale Sachverhalte gedacht und geschrieben haben, gegeneinander abzuwägen, neu auszulegen und zu kommentieren." Dabei komme - im Gegensatz zu den "verlässlichen, technologisch verwertbaren" Research Papers der Physiker, Chemiker und Biologen - eben nur "Tertiärliteratur in Buchform" heraus.
Schuss ins Knie?
Provokantes Fazit: "Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt Sinn außer im Lichte der Biologie." Kutschera variiert damit einen berühmten Ausspruch des russisch-US-amerikanischen Biologen Theodosius Dobzhansky, der einmal gemeint hatte: "Nothing in Biology makes sense, except in the light of evolution."

Dobzhansky wollte damit betonen, dass das Konzept der Evolution Sinn und Ordnung in die Biologie bringt und somit die verstreuten Einzeldisziplinen unter ein gemeinsames Dach holt. Kutschera will mit seiner Kampfansage offenkundig das Gegenteil, nämlich eine Abgrenzung erreichen.

Das ist ihm ohne Zweifel gelungen, nur stellt sich die Frage, ob er damit nicht auch seine eigene Arbeit beschädigt. Denn die Kreationisten könnten nun unter Verweis auf die Geisteswissenschaftler versuchen, sich ebenfalls als Opfer von Polemiken darzustellen - der Glaubwürdigkeit von Kutscheras Sachargumenten wäre das nicht gerade zuträglich.

Robert Czepel, science.ORF.at, 8.7.08
->   Ulrich Kutschera
->   Laborjournal
 
 
 
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01.01.2010