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Autismus: Eine Synapsenstörung  
  Genetiker und Mediziner haben in einer groß angelegten Familienstudie nach genetischen Ursachen von Autismus gesucht. Das Ergebnis: Sämtliche entdeckten Mutationen hatten mit Synapsen - der chemischen Basis aller Lernvorgänge - zu tun. Das erklärt, warum Autisten im Kontakt mit der Außenwelt mitunter überfordert sind.  
Krankheit mit vielen Gesichtern
"Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich." Diesen berühmten Satz aus Leo Tolstojs "Anna Karenina" zitiert Christopher Walsh von der Harvard Medical School gerne, wenn er das Wesen des Autismus illustrieren soll.

Denn autistische Kinder haben nicht sehr viel miteinander gemeinsam: Sie brauchen lange, bis sie sprechen lernen, sie sind in sozialer Hinsicht gehemmt und sie neigen zu stereotypen Verhaltensweisen.

Aber damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon zu Ende. Manche Formen des Autismus sind sehr subtil und für Außenstehende kaum zu erkennen, andere Formen wiederum haben verheerende Auswirkungen. Diese Vielfalt sei ein Hinweis darauf, dass an der Entwicklung der Krankheit auch eine breite Palette an Genen beteiligt ist, meint Walsh.
Familiäre Häufung
Dass es überhaupt lohnt, nach Erbfaktoren Ausschau zu halten, weiß man durch die familiäre Häufung der Krankheit. Kinder, die einen autistischen Bruder oder eine autistische Schwester haben, erkranken in 15 von Hundert Fällen ebenfalls.

Auch wenn sich Fachleute darüber einig sind, dass es hier einen starken genetischen Einfluss gibt, weiß man noch relativ wenig über diese Faktoren. "Wir verstehen vielleicht 20 Prozent der genetischen Ursachen von Autismus", sagt Walsh. "Die restlichen 80 Prozent sind ungeklärt."
Cousin und Cousine als Ehepaar
Um nun Licht ins genetische Dunkel zu bringen hat Walsh mit einigen Dutzend Kollegen eine Familienstudie in Ländern des Nahen Ostens gestartet. Dort sind sechs und mehr Kinder pro Elternpaar keine Seltenheit, folglich fallen unter diesen Bedingungen auch die innerfamiliären Genvergleiche ergiebiger aus.

Die Forscher wählten für ihre soeben im Fachjournal "Science" (Bd. 321, S. 218) erschienene Untersuchung zudem nur solche Familien, bei denen die Eltern relativ nahe verwandt waren (Cousins bzw. Cousinen): "Das erhöht zum einen die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachkommen von der Krankheit betroffen sind", so Walsh. "Zum anderen kann man ererbte Mutationen viel einfacher aufspüren."
Synapsen betroffen
Das Screening von 88 Familien aus Jordanien, Saudi-Arabien, Kuwait und fünf weiteren Ländern dieser Region förderte einige Genmutationen zutage, die offenbar mit der Krankheit zusammenhängen.

Ein Blick auf die entsprechenden Gene zeigte: Obwohl sie alle völlig verschiedene Aufgaben haben, besitzen sie doch eine wichtige Gemeinsamkeit. Sie alle sind Teil jenes molekularen Netzwerks, das die Entwicklung des Nervensystems orchestriert. Genauer gesprochen: Jenes Netzwerks, das den Umbau der Synapsen steuert, wenn das Hirn auf äußere Stimuli reagiert.

Nachdem Synapsen bekanntlich die Grundelemente des Lernens und der Erinnerung sind, liegt der Schluss nahe, dass der Autismus auf seiner molekularen Basis als eine Art Lernstörung betrachtet werden kann.
Zwei Arten von Mutationen
Wobei die Studie von Walsh und Kollegen auch zeigt, dass man in diesem Zusammenhang zwischen zwei Arten von Mutationen unterscheiden muss. Ballistisch ausgedrückt sind das Volltreffer und Streifschüsse: Die eine Art von Mutationen setzt ganze Gene außer Gefecht, die zweite trifft hingegen nur die Periphere, von der aus die Aktivität des eigentlichen Gens gesteuert wird.

Das macht bei der Therapie einen großen Unterschied, betont Walsh. Bei Autisten, denen bestimmte Gene fehlen, bietet sich aus seiner Sicht am ehesten Gentherapie an, auch wenn das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht viel mehr als ein Schlagwort ist. "Wenn hingegen nur der Ein/Aus-Ausschalter des Gens von der Mutation betroffen ist, kann man es unter Umständen wieder aktivieren".

Studien haben etwa gezeigt, dass autistische Kinder ihre Krankheit überwinden können, sofern sie unter angepassten, lernfördernden Bedingungen aufwachsen. Walsh: "Wenn wir mehr über die am Autismus beteiligte Mutationen herausfinden, dann werden wir eines Tages auch prognostizieren können, welche Art von Therapie am besten ist."

[science.ORF.at, 11.7.08]
->   Christopher Walsh Lab
->   Autismus - Wikipedia
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01.01.2010