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China: Neue wissenschaftliche Weltmacht?  
  Am 8. August beginnen die olympischen Sommerspiele in Peking. Grund genug, auch einmal einen Blick auf die Forschung im Reich der Mitte zu werfen. Die nackten Publikationszahlen weisen zwar auf eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Richtung Osten hin. Dass China die neue Nr.1 der Wissenschaft werden könnte, wird von Fachleuten dennoch bezweifelt.  
Zeit zur Übergabe
Wer die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift "Nature" zur Hand nimmt und Seite 413 aufschlägt, findet dort eine Zeichnung, auf der wissenschaftliche Großmächte in Form von Personen dargestellt sind. Da sind zunächst ein Franzose, ein Deutscher und ein Brite zu sehen, alle drei in historischer Kleidung und augenscheinlich entkräftet.

Sie liegen auf dem Boden und sehen einem US-Amerikaner zu, der in Shorts und T-Shirt vorneweg läuft. Aber auch auf seinem Gesicht zeichnet sich bereits einige Anstrengung ab. In der linken Hand hält er ein Staffelholz, er streckt den Arm nach vorne und übergibt es: an wen?
Innovationen aus dem Osten
Verwendet man aktuelle Zahlen der Zitationsdatenbank "Web of Science" als Orientierungshilfe, dann deutet einiges auf China als nächsten Empfänger des Staffelholzes hin. In den frühen 90ern lag die jährliche Zahl chinesischer Fachpublikationen noch klar unter 10.000, das entsprach damals rund einem Prozent des globalen Outputs. Seitdem zeigt die Publikationskurve des Landes steil nach oben - 2006 lagen die entsprechenden Werte bereits bei 70.000 bzw. rund sechs Prozent - und nähert sich sukzessive der Weltspitze.

In manchen Bereichen ist China dort bereits angekommen. Etwa im Fach Nanotechnologie, wo chinesische Forscher bei der Zahl der Veröffentlichungen nur noch von ihren US-Kollegen übertroffen werden. Fachleute rechnen daher mittelfristig mit einer Schwerpunktverlagerung im globalen Wissensoutput.

In einem aktuellen Report des britischen Think Tanks "Demos" heißt es etwa: "Die US-amerikanische und europäische Vorherrschaft bei wissenschaftsbasierten Innovationen ist nicht gesichert. Das Gravitationszentrum der Innovationen beginnt sich von Westen in Richtung Osten zu bewegen."
"Big Science" bald ein Hemmschuh?
Karl H. Müller vom Wiener Institut für Sozialwissenschaftliche Dokumentation und Methodik (WISDOM) würde zumindest dem ersten dieser beiden Sätze zustimmen. Er und zwei US-Kollegen, das Forscherehepaar J. Rogers und Ellen Jane Hollingsworth, sehen in einem Beitrag für "Nature" (Bd. 454, S. 412) durchaus Anzeichen, dass sich die US-Hegemonie in der Welt der Wissenschaft dem Ende zuneigen könnte.

Das Erfolgsrezept der Amerikaner, die "Big Science" (typische Repräsentanten waren bzw. sind das Manhattan Project und das Jet Propulsion Lab), könnte sich nämlich durchaus zum Hemmschuh der Ideenproduktion entwickeln. Zwar ist die Wissenschaft in großen Institutionen unverzichtbar, um teure Experimente im Kollektiv vorzunehmen und aufwändige Probleme zu bearbeiten, bei denen sich der Weg zur Lösung bereits abzeichnet.
Trend zu kleinen Instituten
Aber Forschungseinrichtungen, die wie Holdings geführt werden, neigen eben auch zur Zunahme der Bürokratie, zur Vervielfachung der Entscheidungsebenen und zu struktureller Erstarrung. Ein Hinweis, dass an dieser These etwas dran sein könnte, zeigt die Liste der Nobelpreisträger der letzten Jahre.

Tatsächlich ging kein geringer Teil der Auszeichnungen an Wissenschaftler, die ihre entscheidenden Arbeiten an relativ kleinen Institutionen durchgeführt haben. Beispiele dafür sind etwa: Günter Blobel (Medizin), Ahmed Zewail (Chemie), Paul Greengard (Medizin), Andrew Fire (Medizin), Gerhard Ertl (Chemie), Roderick MacKinnon (Chemie).
Beispiel Deutschland: Aufschwung durch Humboldt
Dass die Organisationsform der Forschung ein wichtiger Erfolgsaktor ist, zeigt auch die Geschichte. "Der Aufstieg Deutschlands zur wissenschaftlichen Supermacht Mitte des 19. Jahrhunderts verdankt sich vor allem der Universitätsreform aus den Jahren 1810 bis 1830. Da entstand die Humboldt'sche Universität mit Forschung und Lehre unter einem Dach. Dieses Prinzip hat sich dann weltweit durchgesetzt", so Karl H. Müller im Gespräch mit science.ORF.at.

Ein Blick auf die Geschichte zeigt außerdem, dass wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Aufschwung oft Hand in Hand gehen. Um beim Beispiel Deutschland zu bleiben: Die ab den 1860er Jahren betriebene Firmenforschung bei Siemens und Bosch brachte eben nicht nur Knowhow, sie sicherte auch satte Gewinne für Jahrzehnte.
Eine Welt ohne Zentrum
Die Phase der US-amerikanischen Dominanz geht nicht ewig weiter, davon ist Karl H. Müller überzeugt. Nur bezweifelt er, dass es überhaupt einen Nachfolger geben wird. Das Ende dieser Ära könnte nämlich das Ende wissenschaftlicher Hegemonie an sich sein, lautet die Hauptthese seines Aufsatzes. Danach komme das Zeitalter der vernetzten Wissenschaft - einer Welt ohne Zentrum, in der Örtlichkeit nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt.

China werde in diesem globalisierten System zwar eine wichtige Position einnehmen, aber eben nur als einer von vielen Playern. Die Zukunft gehöre eher "virtuellen Instituten", deren Mitglieder an verschiedenen Orten der Welt sitzen, prognostiziert Müller.

Sollte er Recht behalten, dann hat die EU bei ihren Plänen für das European Institute of Innovation and Technology (EIT) durchaus Sinn fürs Moderne bewiesen. Es soll nämlich keine Eliteschmiede üblichen Zuschnitts werden, sondern ist als Netzwerk bereits bestehender Forschungsinstitute angelegt.

Ganz frei hat man sich aber auch hier noch nicht vom lokalen Denken gemacht: Bei der Frage, wo denn das EIT-Hauptquartier stehen solle, gab es das übliche Gerangel der Bewerberstädte. Das Rennen gemacht hat schließlich Budapest, wie die EU Anfang Juli bekannt gab.

Robert Czepel, science.ORF.at, 24.7.08
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01.01.2010