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Rechtssprache: Zwischen Theorie und Praxis  
  Themen wie Sterbehilfe oder Gentechnik beweisen: Rechtswort ist nicht unbedingt gleich Rechtspraxis. Im Gespräch mit science.ORF.at skizziert der Verfassungsrechtler Manfried Welan anhand seiner Erfahrungen die Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Text und seiner Auslegung in der Praxis.  
science.ORF.at: Sie gelten als einer der Wegbereiter der politologischen Rechtslehre oder auch juristischen Politologie in Österreich. Wann sind Sie erstmals auf das Spannungsfeld zwischen Recht und Politik gestossen?

Manfried Welan: Dazu kam ich im Zuge meiner Zeit am Verfassungsgerichtshof. Da habe ich das Problem Recht und Politik direkt bei den einzelnen Fällen kennengelernt. Und ich hatte noch etwas Entscheidendes gelernt: In einem Menschen, der um sein Recht kämpft, steckt eine ungeheure Energie und Sehnsucht nach Gerechtigkeit.

Obwohl ich durch das reinigende Feuer der reinen Rechtslehre gegangen war, musste ich dort durch die Erfahrung in der Praxis ein "Naturrecht" anerkennen.
Es gibt also eine Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Rechtswort und der gelebten Rechtspraxis?

Es gibt eine Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit.

Welche Rolle spielt dabei die Sprache?

Zu meiner Zeit am Verfassungsgerichtshof hatte man sich noch sehr einfach ausgedrückt. Die Komplexität ist erst mit der Zeit gekommen. Damals war die Rechtswissenschaft dort nicht sehr verankert, die Richter waren überwiegend Praktiker. Die Hälfte kamen von den Schwarzen, die andere Hälfte von den Roten. Wieder hatte ich den Zusammenhang von Recht und Politik erlebt.
Wie hat sich diese Überschneidung zwischen Recht und Politik gezeigt?

Die Schnittstelle machte sich in der Bestellung der Richter, in den Auseinandersetzungen in der Praxis und im Rechtspositivismus, der all diese Richter in ihrer Sprache und Kommunikation verbunden hatte, bemerkbar.

Damit hatte ich auch die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen kennengelernt - ein wesentlicher Impuls für mein Interesse an der Politikwissenschaft. Daher habe ich die Sprache der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung ebenso wie der Politik und Politikwissenschaft in relativ jungen Jahren erfahren.
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Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Initiative
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Wie stark unterscheiden sich diese verschiedenen "Sprachen"?

Eine Gemeinsamkeit ist: Beide Bereiche stellen sich seit tausenden von Jahren dieselbe Frage. Die Juristen fragen: Was ist Recht? Und die Politologen fragen: Was ist Politik? Der Unterschied ist: Die Juristen gehen sehr stark vom Text aus. Die Politologen hingegen gehen vom Kontext aus. Das ist ein Wortspiel, das ich auch als Universitätslehrer eingeführt habe, um die Realität als Kontext zu bezeichnen und die Wort des Rechts als Text.

Das heißt, in dem Moment, wo man einen Rechtstext im Alltag anwendet, kommt die Politik als Faktor dazu?

Goethe hat das mal so schön formuliert: "Im Auslegen seid frisch und munter, legt ihr´s nicht aus, so legt was drunter." Und das kann man natürlich als aufklärender Jurist auch so formulieren: "Alle legen das Recht so aus, wie sie es brauchen." Das ist auch meine Erfahrung. Nur geben es die wenigsten zu. Ich habe meinen Schülern immer gesagt: "Im Auslegen seid frisch und munter, legt ihr was aus, so seid euch bewusst, ihr legt was drunter."
Was meinen Sie damit? Wenn man einen Rechtstext auslegt, gibt man noch etwas von sich selbst dazu?

Ja. Das zeigt vor allem bei unbestimmten Bereichen wie beispielsweise dem Thema Gleichheit. Die Gleichheit ist ein sehr beliebtes Grundrecht, was Rechtssuchende betrifft. Gerne sagt man, obwohl nur das Gesetz angewendet worden ist: Ich bin ungleich behandelt worden.

Vielleicht ist das Gesetz tatsächlich rechtswidrig angewandt worden. Wenn man sich dessen bewusst ist, dass bei der Auslegung eines Gesetzes immer etwas aus dem Kontext hinzukommt, ist man vielleicht von vorneherein distanzierter, kann objektiver sein und eine wissenschaftliche Haltung einnehmen.
Wenn es in die Praxis geht, wird Recht gerne gedehnt. Wie viel Anteil hat die Sprache in diesem Prozess?

Recht ist sicherlich ein Kind der Sprache. Das heißt, solange wir nicht nur mit irgendwelchen technischen Symbolen arbeiten, wird das Recht sich durch Wörter und Sätze vermitteln. Und ist dadurch natürlich ein Kommunikationsproblem.

Als österreichischer Jurist stehe ich sehr stark zur Wortauslegung. Die Worte sollten also nicht allzu stark von Ihrer Alltagbedeutung weggezogen werden, in irgendwelche geistige Höhen oder interessensmässige Tiefen.
Hat sich die Rechtssprache in den letzten 40 Jahren verändert?

Ja, sie ist - wie alles in der Gesellschaft - komplizierter und differenzierter geworden. Beispielsweise ist die Wissenschaft komplexer geworden. Von bestimmten Disziplinen gibt es plötzlich Nebendisziplinen. Das wirkt sich natürlich auch auf das Recht aus.

Denken Sie nur an Gentechnik, Biotechnologie oder die moderne Medizin, die natürlich auch in Rechtsvorschriften ihren Niederschlag finden. Man darf sich auch nicht erwarten, dass es weniger wird. Ich bin immer der Illusion entgegengetreten, man könnte weniger Rechtsvorschriften haben.
Es werden also immer mehr Rechtsvorschriften?

Ich bin jemand, der gegen jedes neue Gesetz ist. Ich glaube nämlich, dass man mit den alten Gesetzen immer noch etwas machen lässt. Aber man kann diese komplexen gesellschaftlichen Fragen nicht nur durch die Anwendung der bisherigen Praxis lösen. Es braucht dafür Gesetze. Die Praxis kommt sowieso noch dazu.

Ich habe in der Lehre immer gesagt: Recht ist in den Gesetzen ein bisschen wie ein Programm. Dieses unterliegt einem Plebiszit der Praxis - sei es durch die Anwendung, sei es durch die Befolgung, sei es auch durch Regelungen, die die Privaten unter sich ausmachen. Das bedeutet, dass etwas anderes aus dem Programm wird, nämlich lebendes Recht.
Damit wären wir wieder bei der Diskrepanz zwischen Rechtstext und Rechtspraxis?

Ja. Das ist das Problem: Die meisten Rechtswissenschaftler haben das lebende Recht nicht parat, sondern nur das Programmrecht. Das legen sie aus und machen ihre methodischen Anwendungen.

Der Praktiker, der Anwalt, kennt vielleicht das Programmrecht gar nicht mehr, sondern das Recht, das sich in der Praxis durch die Judikatur, durch die Rechtssprechung und durch die Vertragstechnik der privaten Rechtserzeugung ergibt.
Ein aktuelles gesellschaftliches Thema, das europaweit diskutiert wird, ist die Stammzellenforschung.

Da kommen die drei W´s zum Tragen: Die Wertgebundenheit, die Wortgebundenheit und die Wirklichkeitsgebundenheit des Rechts. In Gebieten wie der Stammzellenforschung wird gerne die Ethik stärker betont, weil man glaubt, je mehr die Menschen die Werte internalisiert haben, desto weniger braucht man Worte, um die Wirklichkeit entsprechend nach bestimmten Ordnungsprinzipien zu formen.

Aber die menschliche Freiheit erlaubt es eben, von Normen abzuweichen und unterschiedliche Wertvorstellungen zu haben. Und das macht die Suche nach einem gültigen Recht eben so schwer.

Eva-Maria Gruber, science.ORF.at, 25.7.08
->   Manfried Welan, Boku
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01.01.2010