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Primatenart: Knochenpuzzle nach 100 Jahren gelöst  
  Mitunter ist Wissenschaft wie ein Puzzle. Im Fall der Schädelrekonstruktion einer ausgestorbenen Primatenart sogar buchstäblich. Vor über hundert Jahren hatten Wiener Forscher auf Madagaskar große Teile eines Schädels ausgegraben. 2003 wurden in der gleichen Höhle weitere Knochenteile gefunden. Nun konnte gezeigt werden, dass beide Knochen nicht nur von der gleichen ausgestorbenen Lemurenart stammen, sondern sogar vom selben Exemplar.  
"Das war wirklich eine erfolgreiche Suche nach der Nadel im Heuhaufen", freut sich Ursula Göhlich gegenüber science.ORF.at. Sie ist Kuratorin am Naturhistorischen Museum Wien (NHM) und war an der Auflösung des Puzzles beteiligt.

Der Lemurenschädel ist am NHM zu sehen - in Kürze mitsamt der jüngst entdeckten Teile.
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Die entsprechende Studie "A reconstruction of the Vienna skull of Hadropithecus stenognathus" ist am 29.7. in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073/pnas.0805195105) erschienen.
->   Abstract der Studie
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Eine Entdeckung aus Kaiserzeiten ...
Die Geschichte des Lemurenschädels beginnt 1899. Der Wiener Sammler Franz Sikora lebte damals davon, auf Madagaskar Ausgrabungen vorzunehmen und verschiedene Institutionen mit Knochen zu versorgen. Fundstücke aus der Höhle Andrahomana erreichten auch den Zoologen Ludwig Lorenz von Liburnau von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.

1902 ordnete er gut erhaltene Teile eines Schädels, Kiefers und anderer Knochen einer neuen Art zu und nannte sie Hadropithecus stenognathus. Dabei handelte es sich um den Vertreter einer Lemurenart, die vor 7.500 bis 1.500 Jahren auf der afrikanischen Insel gelebt hat und mittlerweile ausgestorben war.

Der Schädel ist seit damals im Besitz des Naturhistorischen Museums Wien und wird dort auch ausgestellt.
... passt zu einer aktuellen Ausgrabung
Bild: Kristan Norvig
Heutiger Lemur auf Madagaskar mit überraschtem Gesichtsausdruck. Diese Art ist viel kleiner als der Hadropithecus, der über 30 Kilogramm gewogen haben dürfte.
Über hundert Jahre später - im Jahr 2003 - machte eine Forschergruppe um die Anthropologin Laurie Godfrey von der Universität in Massachusetts-Amherst in der gleichen Höhle weitere Knochenfunde. Gesucht wurde nach Knochen der extrem seltenen Art Hadropithecus, gefunden wurden nebst anderem zwei Stirnknochen aus dem Bereich der Augenbrauen.

Die Verbindung zwischen den beiden Funden stellte der Anthropologe Alan Walker von der Penn State University her.

"Walker hat den Schädel in Wien vor zwanzig Jahren gesehen und sich nun an ihn erinnert", erzählt Ursula Göhlich. Als Walker die Fotos der neuen Knochenfunde gesehen hat, kam ihm gleich der Verdacht, dass sie zueinander passen könnten.
Virtuelle Anthropologie: CT-Scans der Schädelknochen
Dass dies tatsächlich der Fall war, wurde mit Methoden der virtuellen Anthropologie bewiesen. Ursula Göhlich und ein Kollege der Universität Wien baten Medizintechniker am Wiener AKH, den Hadropithecus-Schädel per Computertomographie einzuscannen.

Das gleiche machte auch Alan Walker mit den neuen Knochenfunden an der Penn State University. Danach verglich er die beiden Datensets - und siehe da: "Die Bruchflächen haben genau zueinander gepasst", erzählt Göhlich.

Die im Abstand von einem Jahrhundert gefundenen Knochen stammten also offensichtlich vom selben Exemplar.
Computerbild des kompletten Lemurenkopfes
 
Bild: Timothy Ryan, Penn State University

Um das Forschglück endgültig zu machen, vervollständigten Walker und seine Kollegen den Schädel virtuell.

Oben zu sehen: Die weißen Teile, die aus dem Jahr 1899 stammen, die 2003 gefundenen Augenbrauenbögen in rot sowie die durch den Computer modellierten fehlenden Teile in blau.
Vereinte Knochen bald in Wien zu sehen
Doch nicht nur virtuell gibt es ein Happy-End der Geschichte. Auch ganz real wächst bald zusammen, was zusammengehört.

"Laurie Godfrey wird Mitte August mit den beiden Stirnknochen nach Wien kommen. Sie hat versprochen, uns die Knochen zu schenken", freut sich Göhlich über ein herausragendes Beispiel für Wissenschaftskooperation.

Als Gegenleistung bekommen die amerikanischen Forscher Abgüsse des Wiener Schädel-Originals. Ab Oktober soll der ergänzte Primatenschädel dann in den Schauräumen des NHM zu sehen sein.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 29.7.08
->   Ursula B. Göhlich, NHM
->   Alan Walker, Penn State University
->   Laurie Godfrey, University of Massachusetts-Amherst
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Zwei neue Primatenarten auf Madagaskar (15.6.07)
->   Drei neue Lemurenarten auf Madagaskar entdeckt (23.2.06)
 
 
 
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01.01.2010