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Lösung ethischer Probleme im Spital  
  Der Wille des Patienten ist unklar, bei der Behandlung bestehen Auffassungsunterschiede, die Betten auf der Intensivstation sind zu knapp: Phänomene wie diese sind Alltag im Spital. Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind für Ärzte und Ärztinnen eine ständige ethische Herausforderung. Am Universitätsspital Basel wurde deshalb ein Projekt gestartet, das konkrete Antworten auf diese Fragen liefern soll, schreibt die Medizinethikerin Stella Reiter-Theil in einem Gastbeitrag.  
Das Ethik-Projekt METAP
Von Stella Reiter-Theil

Im klinischen Alltag ist die Konfrontation mit begrenzten Ressourcen unvermeidlich. Welche Maßnahmen sind im Einzelfall angemessen und welche Kriterien gelten?

Eine Problemstellung:

Ein 21 jähriger Mann verunglückt mit dem Motorrad und erleidet ein schweres Schädelhirntrauma, eine Lungenkontusion mit mehreren Rippenfrakturen und eine offene Oberschenkelfraktur. Er wird operiert und muss auf einer Intensivstation weiter behandelt werden; wegen des Schädelhirntraumas ist er intubiert und wird beatmet.

Die örtliche (gemischte) Intensivstation kann keine beatmeten Patienten mehr aufnehmen; sie hat acht Betten und Patienten:

- zwei frisch operierte Herzpatienten
- zwei frisch operierte Patienten nach großer Hirnoperation
- ein 85-jähriger Patient nach großer Bauchoperation, der kreislaufunterstützende Medikamente erhält und nur wenig Urin ausscheidet
- eine 35-jährige schwangere Patientin mit schweren Komplikationen
- ein 45-jähriger Familienvater (vier Kinder) mit Sepsis nach Chemotherapie
- eine 65 Jahre alte Patientin mit frischem Herzinfarkt

Frage: Weisen Sie den neuen Patienten ab oder verlegen Sie einen der acht anderen, wenn ja: welchen?
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Stella Reiter-Theil leitet gemeinsam mit Markus Hengstschläger beim Europäischen Forum Alpbach 2008 das Seminar "Ethics and biomedicine: Analysis of decisions and value judgements" (15.-21.8.2008). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Mehr über das Seminar
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Therapieentscheidung und Ressourcenknappheit
Aktuelle Studien belegen, dass die meisten Ärztinnen und Ärzte ethische Schwierigkeiten am Krankenbett erleben. Studien, die wir mit unterschiedlichen Methoden und in verschiedenen Ländern durchgeführt haben, weisen auf folgende Brennpunkte hin:

a) Therapieentscheidungen bei Patienten, deren Entscheidungsfähigkeit vorübergehend oder auf Dauer beeinträchtigt ist: wenn kein klarer Patientenwille ermittelt werden kann
b) Entscheidung, ob eine lebenserhaltende Maßnahme wie die Herz-Kreislauf-Wiederbelebung angebracht ist oder unterlassen werden soll
c) Uneinigkeiten zwischen verschiedenen Beteiligten über Therapieentscheidungen

Des Weiteren gibt es Evidenz, dass der Umgang mit knappen Ressourcen am Krankenbett ein gewichtiges Problemfeld darstellt:
d) Es wird sowohl über Unterversorgung (z.B. Wartelisten) wie Ungleichbehandlung (Benachteiligung bestimmter Gruppen), als auch Überbehandlung (sog. Futility) berichtet.
Ethikberatung kann helfen ...
Nimmt man noch begleitende Befunde aus diesen Studien hinzu, dass die Qualität der Entscheidungsfindung nicht selten zu wenig strukturiert und explizit erfolge, so kann man von einem großen Bedürfnis nach ethischen Hilfsangeboten im klinischen Alltag ausgehen.

Die klinische Ethikberatung oder die Ethikberatung (Ethikkonsultation) ist - neben eher informellen internen Fallbesprechungen, Qualifizierungsmaßnahmen oder Orientierungshilfen wie Richt- und Leitlinien - eine dieser Möglichkeiten.
... und braucht weitere Fundierung
Sie ist in Europa in einer sehr dynamischen Entwicklung und Ausbreitung begriffen, die auch den deutschsprachigen Raum erfasst hat. Wir gehen von der Voraussetzung aus, dass verschiedene Formen ethischer Unterstützung sinnvoll und - je nach institutionellen Rahmenbedingungen - möglich sind.

Eine noch wenig systematisch untersuchte Quelle ethischer Hilfestellung sind Richt- oder Leitlinien mit Schwerpunkt auf Klinischer Ethik. Hier ist noch Pionierarbeit zu leisten, um solche Regelwerke stärker wissenschaftlich zu fundieren und ihre Anwendbarkeit zu verbessern.
Projekt am Universitätsspital Basel
Um den klinisch Tätigen wie den Betroffenen bei solchen Schwierigkeiten durch strukturelle und wissenschaftlich fundierte Maßnahmen zu helfen und ethisch angemessene Therapieentscheide zu fördern, haben wir das Kooperationsprojekt METAP (Modular Ethical Treatment Allocation Process) ins Leben gerufen, an dem Bereiche wie Intensivmedizin, Geriatrie und Palliativbetreuung mitwirken.

Es setzt an der Evidenz für das Vorkommen von Unter-, Über- und Ungleichversorgung an und somit auch an der alltäglichen Erfahrung der klinisch Tätigen, dass die Patientenversorgung mitunter als ungerecht erlebt wird. Diese Erfahrung kann beim Personal auf die Dauer moralischen Distress auslösen und bis zum Burnout führen.

Interessanterweise kann dazu auch das Erleben beitragen, mit ethischen Fragen wie Sinn und Nutzen von Maßnahmen nicht kompetent umzugehen: Werden ethische Entscheidungen gar als willkürlich empfunden (z.B. als abhängig davon, wer gerade Dienst hat), werden Motivation und Einsatzfreude beeinträchtigt - von den Folgen für die Patienten einmal abgesehen.
Werkzeuge für strukturierte Entscheidungsfindung
Wir haben ein Instrumentarium erarbeitet, das den kooperierenden Abteilungen auf Forschung und Literatur gestützte Grundlagen sowie 'Werkzeuge' für eine strukturierte Entscheidungsfindung zur Verfügung stellt, gerade bei schwierigen ethischen Fragen, z.B. wenn der Patientenwille unklar ist oder wenn Auffassungsunterschiede über das richtige Ausmaß an Behandlung bestehen:

- Welche medizinischen Maßnamen sind im Einzelfall in welcher Intensität und Dauer angemessen und welche Kriterien sind bei der Re-Evaluierung zu beachten?

- Wann ist eine Therapiebegrenzung vertretbar, wann nicht? Wie ist das Risikoprofil eines Patienten dafür einzuschätzen, dass er oder sie zuviel oder zuwenig Behandlung erfährt, also nicht "angemessen" versorgt wird?

- Wie ist das Vorgehen bei einer schwierigen Entscheidungsfindung zu gestalten: Wann ist eine interne ethische Fallbesprechung, wann sollte zusätzlich fachliche Hilfe wie ein Ethikkonsil in Anspruch genommen werden?
Kriterien und Empfehlungen
Das Instrumentarium METAP befindet sich zurzeit in der Phase der Pilotimplementierung, nach einer ersten Evaluierung und entsprechenden Anpassung wird die Regelimplementierung in verschiedenen Abteilungen erfolgen. Geplant ist auch eine Erweiterung des klinischen Spektrums, das aktuell operative Intensivbehandlung, Akutgeriatrie und Palliative Care umfasst.

Problemstellungen wie die zu Beginn formulierten können mit Hilfe von METAP auf verschiedenen Wegen angegangen werden. Es stehen eigens aufbereitete (empirische und ethische) Grundlagen zu verschiedenen relevanten Fragestellungen zur Verfügung, die Kriterien und Empfehlungen enthalten.
Weitere Schritte und Verfahren
Sofern die Orientierung suchenden Behandelnden in der konkreten Situation durch Konsultation dieses Materials noch nicht zu einer tragfähigen Entscheidung und Einigung kommen, sind weitere Schritte und Verfahren angezeigt: der Einsatz von methodischen "Werkzeugen", eine ethische Fallbesprechung mit interner Moderation oder - als weitere Hilfestellung - ein Ethikkonsil mit entsprechenden unabhängigen Fachpersonen.

Die Anwendung von METAP wird systematisch evaluiert und angepasst. Einsichten daraus werden auch über die Einzelfallanalyse hinaus für die institutionelle Entwicklung der kooperierenden Abteilungen ausgewertet.

[7.8.08]
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Über die Autorin
Stella Reiter-Theil ist Leiterin des Fachbereichs Medizin- und Gesundheitsethik an der Medizinischen Fakultät des Universitätsspitals Basel.
->   Medizinethik, Universitätsspital Basel
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Mehr zum Europäischen Forum Alpbach 2008:
->   Wilhelm Vosskamp: Wenn sich Utopien der Wirklichkeit annähern
 
 
 
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01.01.2010