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Schizophrenie: Der Preis fürs große Hirn?  
  Das im Vergleich zu anderen Tierarten große Hirn des Menschen muss nicht unbedingt immer von Vorteil sein. Eine aktuelle Studie zeigt nun, dass wir uns mit der üppigen Hirnmasse eine Anfälligkeit für Schizophrenie eingehandelt haben könnten.  
Exzesse im Bauplan
Das Hirn des Menschen ist ohne Zweifel groß - relativ und absolut -, ob man es deswegen auch als "Extremorgan" bezeichnen sollte, ist vermutlich Geschmacksache. Unter diese Rubrik fallen jedenfalls alle Bildungen der Evolution, die ein exzessives Maß angenommen haben, etwa die Eckzähne des Säbelzahntigers, die Schwanzfedern der Paradiesvögel oder das Geweih des Riesenhirschen.

Solcherart übers Ziel hinausgeschossene ("atelische") Organe sind unter Umständen ein langfristiger Nachteil für ihren Besitzer. Bei den Paradiesvögel ist das sicher so. Was könnte fürs Flüchten und Tarnen hinderlicher sein als theatralisch lange und bunte Schwanzfedern? Und trotzdem gibt es sie, der Organ-Luxus wird eben durch die sexuelle Selektion aufrecht erhalten, lautet die Standarderklärung der Soziobiologen.
Vom Schlechten des Guten
Beim Hirn von Homo sapiens assoziert man in der Regel eher Positives: Unser übermäßig großes Nervensystem ermögliche die Entwicklung komplexer Sozialstrukturen, Sprache und nicht zuletzt alles, was wir im weitesten Sinn als "Kultur" bezeichnen.

Stimmt schon, nur ist nicht ausgemacht, dass uns der kulturell-technologische Überbau nicht eines Tages auch auf den Kopf fallen könnte - Stichwort Klimawandel und Massenvernichtungswaffen -, weil wir trotz großer Gehirne eher nicht so super agieren, wenn es um die langfristigen Folgen unseres Tuns geht.
Schizophrenie - eine Stoffwechselstörung
Mit etwaigen Nachteilen unserer üppigen neuronalen Ausstattung beschäftigt sich auch Philipp Khaitovich vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er und sein Team haben nun in der Zeitschrift "Genome Biology" eine Studie veröffentlicht, die folgender Hypothese nachgeht: Übermäßig große Hirne könnten anfälliger für bestimmte Krankheiten sein. Das Auftreten psychischer Störungen wie etwa Schizophrenie könnte demzufolge die Zeche sein, die wir für unser vergleichweise riesiges Denkorgan bezahlen müssen.

Hinweise darauf suchten Khaitovich und seine Kollegen zunächst in 22 Gengruppen, in denen die Selektion während der letzten 200.000 bis Millionen Jahren besonders starke Aktivitätsverschiebungen ausgelöst hat - die verglichen sie mit jenen genetischen Abweichungen, welche im Hirn von Schizophrenie-Patienten vor sich gehen.

Sechs der 22 Gencluster erwiesen sich als laut Statistik als zusammengehörig, und alle sechs gehörten zum gleichen Funktionskreis: dem Energiestoffwechsel. Das spricht dafür, dass man die naturgeschichtliche Aufblähung des Hirns wie auch die Schizophrenie als Wandlung des Energiehaushalts betrachten kann.
"Alte" Muster im Hirn von Patienten
Ersteres ist nicht besonders überraschend, unser Gehirn braucht tatsächlich überproportional viel Energie - in Zahlen ausgedrückt: es trägt rund ein Fünfzigstel zur Körpermasse bei, verwertet aber ein Fünftel des eingeatmeten Sauerstoffs. Was Schizophrenie anlangt, ist der Energieansatz hingegen eher überraschend.

Aber es könnte durchaus etwas dran sein, wie ein Blick per NMR ins Hirn von schizophrenen und gesunden Menschen sowie von Schimpansen und Makaken nahelegt: Auch hier zeigte sich, dass es einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Evolution gibt - und auch hier ist das Bindeglied der Hirnstoffwechsel. Der Studie zufolge haben die Stoffwechselmuster von Schizophrenen etwas Urtümliches an sich. Überspitzt ausgedrückt: Sie sind jenen von Schimpansen und Makaken ähnlicher.
Das Gehirn am Limit
Kann man sagen, dass Schizophrenie eine Art metabolischer Atavismus ist, ein Rückschlag des Hirnstoffwechsels in die Urzeiten unserer Gattung? "Das zu behaupten wäre angesichts unserer Daten viel zu spekulativ", sagt Khaitovich im Gespräch mit science.ORF.at.

"Schizophrenie kann man sicher nicht als kognitiven Schimpansen-Zustand ansehen. Und auch was den reinen Stoffwechsel betrifft, müssen wir Änderungen immer im Kontext des gesamten Systems sehen, also den Hirnen von Affen und Menschen. Sie funktionieren einfach nicht auf dieselbe Weise."

Eher anfreunden kann sich Khaitovich indes mit folgender Interpretation: Wenn große Hirne anfälliger für Schizophrenie und ähnliche Fehlleistungen sind, könnte das ein Ausdruck dafür sein, dass die Evolution unser Hirn bereits an die Grenze des Möglichen manövriert hat. Was den Stoffwechsel betrifft, sind wir womöglich schon im roten Bereich.

Robert Czepel, science.ORF.at, 5.8.08
->   Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie
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01.01.2010