News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Placebo: Ein Effekt mit vielen Gesichtern  
  Auch wenn der Placebo-Effekt bei manchen Beschwerden mittlerweile sogar biochemisch nachgewiesen werden konnte, halten ihn viele Mediziner für eine unklare und störende Nebenwirkung, die etwa klinische Studien verzerrt. Dabei könnte man - sofern seine Grundlagen geklärt wären - die Scheinwirkung viel gezielter einsetzen, meinen zumindest manche Neurowissenschaftler.  
Positives Denken allein reicht laut Francesco Benedetti von der Universität Turin als Erklärung des Effekts nicht aus. Vielfältige Wechselwirkungen machen ihn so schwer fassbar und für manche so ärgerlich. Darüber berichtet der "New Scientist" (21.August 2008) in seiner aktuellen Ausgabe.
Grundlage der Arzneimittelforschung
Die doppelblinde randomisierte Placebo-kontrollierte Studie spielt in der Arzneimittelforschung eine zentrale Rolle. Sie funktioniert folgendermaßen: Zuerst werden Testpersonen gesucht, die nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen geteilt werden. Die erste Gruppe erhält das zu testende Mittel, die Kontrollgruppe lediglich ein Placebo - also ein wirkungsloses Scheinmedikament.

Vergleicht man also die zwei sonst völlig gleichwertigen Testgruppen, sollte jeder sichtbare Effekt auf das echte Medikament zurückzuführen sein - soweit die Theorie.
Medikamente als "Placebo-Verstärker"
In der Praxis muss das allerdings nicht stimmen, wie Benedetti herausgefunden hat. In einer seiner ersten Studien untersuchte er die Wirkung eines Schmerzmittels. Erwartungsgemäß schnitt das Medikament im Vergleich zum Placebo deutlich besser ab.

Als er das Mittel allerdings einer Gruppe Freiwilliger verabreichte, ohne ihnen zu sagen, um welche Arznei es sich eigentlich handelt, hatte es plötzlich gar keine Wirkung. Das heißt, da die Testpersonen keinerlei Erwartungen entwickeln konnten, wofür und wogegen der Wirkstoff eingesetzt wurde, war er wirkungslos.

Zudem konnte das Team des Wissenschaftlers zeigen, dass die Kombination der Erwartungshaltung mit diesem Medikament zur Produktion von natürlichen schmerzlindernden Endorphinen führt.

Man kann also in diesem Fall nicht wirklich von einem reinen Placebo-Effekt sprechen, das Mittel wirkt offenbar als "Placebo-Verstärker". Dasselbe Phänomen könnte es laut Benedetti auch bei anderen Medikamenten geben.
Wirkung und Scheinwirkung schwer zu trennen
Demnach könne man nie eine klare Aussage über die Wirkung machen, da allein das Verschreiben eines Medikaments zu einer Reihe biochemischer Reaktionen im Gehirn des Patienten führt.

Auch bei sehr wirkungsvollen Mitteln, wie etwa Morphium, kann die schmerzlindernde Wirkung durch Erwartungen erhöht werden.

Laut Benedetti müssten Studien deswegen eigentlich ganz anders konzipiert werden. Er verfolgt etwa einen Ansatz, bei dem auch "versteckte" Behandlungen vorkommen.

Die Teilnehmer erfahren dabei nicht immer die Wahrheit darüber, was sie jetzt tatsächlich erhalten haben. Dieses Konzept wird allerdings auch von vielen Seiten kritisiert, nicht zuletzt aus ethischen Gründen.
Die Kombination von Placebo-Effekten
Für Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School in Boston geht es nicht nur darum, die Medikamentenwirkung vom Placebo-Effekt zu unterscheiden. Eigentlich hätten nur Behandlungen einen Wert, die tatsächlich besser sind als Placebos.

Daher verglich er in einer aktuellen Studie drei verschiedene "Behandlungen" von Reizdarm: Die erste Gruppe erhielt eine Schein-Akupunktur in Kombination mit ärztlicher Aufmerksamkeit, die zweite nur die Schein-Akupunktur, die dritte landete auf einer Warteliste.

Das beste Behandlungsergebnis erzielte die erste Gruppe, das schlechteste die letzte. Generell war der Placebo-Effekt vergleichbar mit der Wirkung einschlägiger Medikamente für diese Erkrankung.
Placebo-Effekt als Behandlungsergänzung
Das Erstaunliche daran ist laut den Forschern aber, dass sich der Placebo-Effekt offenbar durch die Kombination unterschiedlicher Faktoren verstärken lässt. Ein ähnliches Phänomen entsteht durch Konditionierung, das heißt, der Effekt lässt sich erhöhen, je öfter das Placebo verabreicht wird.

Die Wissenschaftler rund um Kaptchuk bezeichnen diese vielfältigen Wechselwirkungen auch als kontextuelle Heilung, die eben durch den Kontext produziert, aktiviert und verstärkt werden kann.

Hier ergeben sich viele Möglichkeiten, den Placebo-Effekt sinnvoll nutzbar zu machen, meinen die Forscher. So könnte etwa der Arzneimittelverbrauch zumindest bei manchen Krankheiten deutlich gesenkt werden. Noch wisse man aber nicht genug über die körperlichen und psychischen Vorgänge bei diesem Phänomen.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 21.8.08
->   "New Scientist"
->   Placebo (Wikipedia)
->   Fabrizio Benedetti
->   Ted Kaptchuk
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Teure Placebos helfen besser als billige (5.3.08)
->   Forscher: Ist Placebo Doping? (6.11.07)
->   Placebo-Duell: Akupunktur siegt über Pille (3.2.06)
->   Placebo-Effekt biochemisch nachgewiesen (24.8.05)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010