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Mehrsprachigkeit braucht Neuorientierung  
  "Einsprachigkeit ist heilbar", haben die Linguisten bereits im Jahr 1997 proklamiert. Über zehn Jahre später bricht Rudolf de Cillia einmal mehr eine Lanze für Mehrsprachigkeit: Der Wiener Sprachwissenschaftler skizziert den ernüchternden Status quo in Bevölkerung, Schulen und Universitäten. Er plädiert für eine Neuorientierung - in der Migranten-Sprachpolitik sowie im Sprachunterricht. Und de Cillia fordert: Mehr Vielfalt an Wissenschaftssprachen!  
Alles mehrsprachig?
Von Rudolf de Cillia

Mehrsprachigkeit steht gerade in diesem Jahr wieder hoch im Kurs, zumindest in Sonntagsreden oder auf von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Tagungen und Kongressen: Wir feiern das von der EU ausgerufene "Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs" und das "Internationale Jahr der Sprachen".

Mehrsprachigkeit wird wieder einmal thematisiert - aber wie geht man in der realen Welt mit Mehrsprachigkeit um?
Frage des Prestiges
Nehmen wir die Mehrsprachigkeit der in Österreich lebenden Bevölkerung als Beispiel: Bei der Volkszählung (VZ) 2001 gaben 8,6 Prozent an, neben Deutsch noch eine andere Sprache als Umgangssprache zu benutzen, 2,8 Prozent gaben ausschließlich eine nichtdeutsche Umgangssprache an. Wie sehr die an die 60 unterschiedlichen Sprachen, die in der VZ angeführt werden, tatsächlich positiv als Mehrsprachigkeit wahrgenommen werden, hängt sehr stark von deren Prestige ab.

Handelt es sich um die so genannten großen "internationalen Sprachen" wie Englisch, Französisch, Italienisch, dann werden sie zweifellos als wichtige Ressource gesehen. Aber das sind knapp 80.000 Sprecherinnen (ca. ein Prozent der Bevölkerung), die diese Sprachen angegeben haben.
Deutschpflicht für Migranten
Den weitaus größten Teil dieser Mehrsprachigkeit machen die Sprachen der Migranten aus: 6,7 Prozent gaben eine der Sprachen des ehemaligen Jugoslawien bzw. der Türkei an. Deren Mehrsprachigkeit wird schon wesentlich weniger geschätzt. Und nur von diesen (und anderen so genannten Drittstaatsangehörigen) verlangt das österreichische Gesetz, dass sie im Rahmen einer "Integrationsvereinbarung" verpflichtend Deutsch lernen.

Tun sie das nicht, droht ihnen die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung. Im Jahr 2006 betraf das 23.178 von insgesamt 85.384 Zuwanderern. EU- und EWR-Bürger brauchen sich dieser Übung also nicht zu unterziehen. Sind deren Erstsprachen wertvoller?
Drei Formen von Mehrsprachigkeit
Nehmen wir die Schulen als weiteres Beispiel: Dreierlei Formen von Mehrsprachigkeit finden sich dort. Erstens die autochthonen Minderheiten, für deren Kinder in Kärnten und im Burgenland in der Volksschule ein zweisprachiger Unterricht garantiert ist, und in Kärnten ist dieser zweisprachige Unterricht so beliebt, dass schon ca. 70 Prozent der Schüler aus Familien kommen, in denen zu Hause kein Slowenisch gesprochen wird.

Zweitens finden wir an den Schulen die Kinder mit Migrationshintergrund, die zu Hause eine der Zuwanderersprachen sprechen und die 2006/2007 ca. 20 Prozent der Schüler in ganz Österreich (ca. 51 Prozent in Wien) ausmachten. Sie haben Anspruch auf drei bis sechs Stunden "muttersprachlichen Unterricht", den aber nur ca. 20 Prozent der Berechtigten wahrnehmen. Denn der Unterricht wird als Freifach oder unverbindliche Übung angeboten, oft am Nachmittag, und ist nicht relevant für die schulische Karriere (z.B. für die AHS-Reife).
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Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Initiative
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Fremdsprache Nr. 1: Englisch
Für den Großteil dieser Schüler wird so wohl die Erstsprache im Verlauf ihres Lebens zur Zweitsprache werden, und in ihrer Erstsprache sind sie nur ungenügend ausgebildet. Drittens haben wir es an den Schulen mit Mehrsprachigkeit zu tun, die durch Fremdsprachenunterricht entsteht. De facto beschränkt sie sich allerdings großteils auf Zweisprachigkeit.

Denn 2004/05 lernten 92,85 Prozent der Schüler in der Volksschule nur eine Fremdsprache, in der Mittelstufe waren es 89,81, auf der Oberstufe waren es immer noch 59,6 Prozent - und diese eine Fremdsprache ist praktisch immer Englisch. Die EU empfiehlt schon seit 1996 die Formel "1+2" für die Pflichtschule, d.h. zur eigenen Muttersprache noch zwei Fremdsprachen zu lernen.
Neuorientierung im Unterricht
Alle drei Formen dieser schulischen Mehrsprachigkeit werden in der Regel voneinander und vom Unterricht in der Staatsprache Deutsch getrennt. Zukunftsorientierte Konzepte von Sprachunterricht fordern hier einen integrativen Zugang, eine stärkere Förderung jeder Form von Mehrsprachigkeit und eine Neuorientierung an der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit in den Klassenzimmern.

Das soll auch im Deutschunterricht geschehen, da im Unterricht in der Staatssprache ja auch "generelle Sprachkompetenzen" entwickelt werden und da in ihm Schüler mit unterschiedlichen Kompetenzen in dieser Sprache (für die einen ist es die Erstsprache, für andere die Zweit- oder Drittsprache) sitzen.
Publikationssprache Englisch
Nehmen wir die Wissenschaft als drittes Beispiel: In den meisten Fällen hat man es da nicht einmal mehr mit Zweisprachigkeit zu tun, sondern oft nur mehr mit Einsprachigkeit in einer Zweit-/ Fremdsprache, dem Englischen. Weit über 90 Prozent der naturwissenschaftlichen Publikationen erscheinen in englischer Sprache. Russisch, Japanisch, Französisch und Deutsch bewegen sich zwischen ein und zwei Prozent.

Hauptsächlich in den Geisteswissenschaften gibt es noch so genannte "Nischenfächer", in denen sich z.B. auch das Deutsche, bis in die Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts noch eine führende Wissenschaftssprache, eine gewisse Bedeutung bewahrt hat.
Deutschsprachige Anträge unüblich
Eine Folge dieser Situation: Forschungsprojekte müssen in der Regel auf Englisch eingereicht werden, und dann müssen schon auch einmal deutschsprachige Gutachter ihre Gutachten für von deutschsprachigen Antragsstellern auf Englisch formulierte Projektanträge in Disziplinen, in denen Deutsch noch eine vitale Wissenschaftssprache ist, auf Englisch verfassen.

Oder sie lehnen derartige Ansinnen ab, was auch schon vorgekommen sein soll. Publizieren auch auf Englisch ist natürlich notwendig, auch wenn die Annahme, man würde dadurch automatisch in der englischsprachigen Welt wahrgenommen, kurzschlüssig ist.
Vielfalt der Wissenschaftssprachen
Aber auf die Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften zu verzichten, ist problematisch. Stellt doch jede der hoch entwickelten Wissenschaftssprachen, deren Herausbildung Jahrhunderte gedauert hat, einen je spezifischen Zugriff auf die außersprachliche Realität dar, heuristische Werkzeuge, auf die die Wissenschaft nicht verzichten sollte.

Um das zu verdeutlichen: Die Theoriebildung eines Jürgen Habermas oder gar eines Martin Heidegger auf Englisch ist genauso wenig vorstellbar wie die eines Pierre Bourdieu auf Deutsch oder eines Noam Chomsky auf Französisch.
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Wiener Manifest
Um dieses Potenzial zu bewahren, ist ein differenzierterer Umgang mit Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsbetrieb nötig. Z.B. durch die Förderung mehrsprachiger Dissertationen und Publikationen, durch die Unterstützung mehrsprachiger Abstract-Dienste und Fachzeitschriften, durch mehrsprachige Lehre, durch die Förderung der Übersetzung wissenschaftlicher Publikationen, oder, wie es das "Wiener Manifest zur europäischen Sprachenpolitik" vorschlägt: "die Evaluation von wissenschaftlichen Leistungen nicht an solchen Evaluationsstandards (z.B. SCI, SSCI, A&HCI) zu orientieren, die die Lingua franca eindeutig bevorzugen, sondern im Gegenteil mehrsprachige Publikationstätigkeit zu honorieren."
->   Manifest
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Einsprachigkeit ist heilbar
Vor über 40 Jahren hat der bekannte deutsche Germanist Leo Weisgerber einmal geschrieben: "Für die große Menge behält es Geltung, dass der Mensch im Grunde einsprachig ist.". Heute ist man sich in der Linguistik einig, dass sowohl Individuen als auch Gesellschaften im Prinzip mehrsprachig sind, was im folgenden Buchtitel Ausdruck findet: "Einsprachigkeit ist heilbar" (der Titel von Band 11/1997 der einmal im Jahr erscheinenden Zeitschrift "Sociolinguistica").

Ein differenzierterer Umgang mit der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit und der Mehrsprachigkeit in Schulen sollte daraus folgen, und auch in der Wissenschaft, die derzeit zur Einsprachigkeit in Englisch tendiert.
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Über den Autor
Rudolf de Cillia ist Professor am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem die europäische Sprachenpolitik, Geschichte, Situation und Innovation des Fremdsprachenunterrichts in Österreich sowie deutschsprachigen Ländern, Spracherwerb in der Migration.
->   Rudolf de Cillia
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->   Alle Beiträge der Serie "Sprechen Sie Wissenschaft"
 
 
 
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01.01.2010