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Mittelalterliche Urbanität im Urwald  
  Der südliche Amazonas war im Mittelalter deutlich stärker besiedelt als heute. Anthropologen haben im Umkreis des Xingu-Flusses Überreste von Städten gefunden, die offenbar Teil eines riesigen urbanen Netzwerkes waren. Schluss der Forscher: Die Indigenen Amazoniens lebten ähnlich "städtisch" wie die europäische Bevölkerung jener Zeit.  
Gegen Klischees angraben
"Wenn man etwas in Europa ausgräbt, dann ist es eine Stadt. Findet man es hingegen anderswo, dann muss es auch etwas anderes als eine Stadt sein", beschreibt Michael Heckenberger von der University of Florida ein grundlegendes Stereotyp seiner Disziplin.

Doch er und seine Mitarbeiter arbeiten daran, solche Vorurteile in den Köpfen der Anthropologen endgültig zu tilgen. Heckenbergers Ausgrabungen dürften diesem Ansinnen durchaus nützen: Im Jahr 2003 entdeckte er Siedlungen am Oberlauf des Río Xingú im brasilianischen Bundesstat Mato Grosso, die auf ein großflächig organisiertes Gemeinwesen, bestehend aus Städten, Dörfern und Weilern hindeuteten (Science, Bd. 301, S. 1710).

Mittlerweile hat Heckenberger in jener Region, in der heute die Kuikuro-Indianer leben, eine ganze Reihe neuer Ausgrabungen gemacht. Sie alle zeigen: Die Kultur Amazoniens stand ihrem europäischen Gegenstück keineswegs nach. "Wenn wir die durchschnittliche mittelalterliche Stadt oder auch die griechische Polis anschauen", sagt Heckenberger, "dann finden wir hier im Amazonas ähnlich große Dörfer. Was ihre Planung betrifft, sind diese hier sogar komplizierter."
Lebensraum für 50.000 Menschen
 
Bild: Science/AAAS

Bild oben: Grabungsarbeiten im Urwald.

Wie der US-Anthropologe nun in einer neuen Science-Studie (Bd. 321, S. 1214) berichtet, spannten sich in der Xingu-Region zwei Netze von Niederlassungen, die er "galaktische Cluster" nennt. "Galaktisch" deswegen, weil jeder Cluster offenbar ein städtisches Zentrum hatte, um das sich große, kleine und winzige Ortschaften gruppierten. Viele davon waren autonom, was etwa an Begrenzungswällen und rituell genützten Plätzen im Zentrum der Siedlungen abzulesen ist.

Aber sie waren keineswegs isoliert, sondern untereinander verbunden: in physischer Hinsicht durch ein Straßensystem, und ebenso in sozialer Hinsicht, weswegen Heckenberger und sein Team hier auch explizit von urbaner Lebensweise sprechen. Insgesamt dürfte es mehr als 15 solcher Cluster gegeben haben, in denen etwa 50.000 Menschen wohnten.

Die Bevölkerungsdichte des gesamten Gebietes (20.000 Quadratkilometer) war nach heutigen Begriffen mit 2,5 Menschen pro Quadratkilometer freilich nicht sehr hoch. Zum Vergleich: In Deutschland leben auf der gleichen Fläche mehr als 230 Personen, in Österreich sind es knapp 100. Andererseits gibt es in Nordschweden auch heute Gemeinden, deren Einwohnerzahl pro Quadratkilometer unter zwei liegt.
Abruptes Ende
 
Bild: Science/AAAS

Bild oben: Verkohlte Überreste eines Hauses.

Das gesamte Gefüge weist jedenfalls auf sorgfältige Planung hin. Sie zeigt sich beispielsweise an der Tatsache, dass jeder zentrale Platz mit einer von Nordost in Richtung Südwest führenden Straße verbunden war - wohl ein Hinweis auf die rituelle Bedeutung der Sonnenwende.

Die ältesten Siedlungen dürften bis zu 1.500 Jahre alt sein, schreiben die Autoren in ihrer Studie, vor 400 bis 500 Jahren verschwand die (noch namenlose) Kultur. Um diese Zeit landeten bekanntlich die Europäer auf dem südamerikanischen Kontinent. Sie brachten Kriege und Krankheiten, die indigene Bevölkerung hatte ihnen offenbar nichts entgegenzusetzen.

Robert Czepel, science.ORF.at, 29.8.08
->   Michael Heckenberger
->   Rio Xingu - Wikipedia
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01.01.2010