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Medizin: Jahrzehnte von Entdeckung zur Anwendung  
  Wenn ein Wirkstoff mit hohem Potenzial entdeckt wird, dauert es dennoch durchschnittlich 24 Jahre, bis er tatsächlich in der Behandlung von Patienten eingesetzt wird. Die Zeitspanne ist nicht nur deswegen so groß, weil langwierige Tests vor dem Einsatz am Menschen nötig sind, sondern auch, weil Erkenntnisse oft nicht zu den maßgeblichen Stellen durchdringen und deshalb lange "in der Schublade" liegen bleiben.  
Das hat ein Team um John Ioannidis von der Universität Ioannina in Griechenland anhand der Analyse von 32 mehr als 1.000 Mal zitierten Studien in medizinischen Fachjournalen herausgefunden.
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Die Studie "Life Cycle of Translational Research for Medical Interventions" ist am 5. September 2008 in "Science" erschienen (Band 321, S. 1298f, DOI:10.1126/science.1160622).
->   Zur Studie (kostenpflichtig)
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Schlagwort "Schnittstelle"
"Schnittstellen" und "Übersetzung" sind viel gebrauchte Schlagworte in der Forschungspolitik der letzten Jahre.

Grob gesagt geht es bei "translational research" darum, Erkenntnisse aus Forschungsprojekten möglichst schnell an jene Orte zu bringen, wo sie angewandt werden können: in die Industrie, in NGOs, wenn es sich beispielsweise um sozialwissenschaftliche Forschung handelt, oder in die Medizin, wenn es um neue Wirkstoffe oder Behandlungsweisen geht.
Druck zur Anwendung
Gerade in der Medizin ist der Drang zur Anwendung besonders stark, würde man annehmen. Schließlich kann man davon ausgehen, dass es immer Patienten gibt, die auf ein neues Medikament oder eine neue Therapie warten.

Außerdem ist die medizinische Forschung meist sehr teuer, was den Druck hin zur Anwendung noch erhöht.
Literaturstudie
Die Forscher um John Ioannidis wollten es genauer wissen, wie lange es tatsächlich vom ersten Bericht über eine interessante Entdeckung bis zur erfolgreichen Anwendung am Menschen dauert.

Sie nahmen sich die Literatur über erfolgreiche Anwendungen her, die in den Jahren 1999 bis 2004 in den wichtigsten medizinischen Journalen erschienen ist, und filterten jene Studien heraus, die aufgrund der Wichtigkeit der entdeckten Wirkstoffe oder Therapien (grob unter dem Begriff "Intervention" zusammengefasst) mehr als 1.000 Mal in anderen Arbeiten zitiert wurden.
32 Entdeckungen nachrecherchiert
Aus diesen 49 Beiträgen wurden wiederum nur jene für die aktuelle Auswertung herangezogen, deren Entdeckungen sich nicht im Nachhinein als ineffektiv herausstellten. Es blieben 32 Studien übrig, deren Weg in die Anwendung Ioannidis und Kollegen minutiös nachzeichneten.

Sie definierten mehrere Meilensteine, anhand derer sie den Weg der Studien nachverfolgten: erste Veröffentlichung der Entdeckung, erster Artikel über Anwendung am Menschen, erster Bericht über eine erfolgreiche Anwendung und, sofern das vorkam, wann die Effizienz des neuen Wirkstoffs bzw. der neuen Therapie widerlegt wurde.
Im Durchschnitt: 24 Jahre
Die Ergebnisse: Durchschnittlich dauert er 24 Jahre von der ersten Beschreibung einer Entdeckung bis zu einer erfolgreichen Anwendung. Am schnellsten ging es bei zwei Wirkstoffen mit Namen "Indinavir" (Teil der antiretroviralen Therapie bei einer HI-Infektion) und Abciximab (ein bei Herzattacken und Infarkten gebräuchliches Medikament).

Bei ihnen lagen nur vier Jahre zwischen Bekanntgabe der Entdeckung (in beiden Fällen durch die Anmeldung eines Patents) bis zur Publikation des wirksamen Therapieeinsatzes. Beide Projekte zeichneten sich durch die von Anfang an integrierte Zusammenarbeit zwischen Grundlagen- und klinischer Forschung aus, schreiben Ioannidis und Kollegen in "Science".
Unrealistische Versprechungen
Angesichts dieser Ergebnisse sehen es die Forscher als Aufgabe der Wissenschaft, in der Öffentlichkeit auf die Länge des Wegs von einer Entdeckung bis zur Anwendung immer wieder hinzuweisen. "Unrealistische Versprechungen über schnelle Therapien und Medikamente schaden der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft", schreiben sie.

Dennoch fordern sie aber, dass es mehr Anreize geben müsse, damit Tests im Rahmen von kontrollierten klinischen Studien schneller durchgeführt werden. Und sie plädieren einmal mehr für multidisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere von Grundlagen- und klinischer Forschung. Ansonsten drohe die Gefahr, dass Erkenntnisse immer wieder "in Schubladen verschwinden" und der Weg zur Anwendung noch länger werde.

[science.ORF.at, 8.9.08]
->   Universität Ioannina
->   Translational-Research-Programm des FWF
 
 
 
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01.01.2010