News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Die Zeit vor Google: Bibliotheken und Ordnungssysteme  
  Auch wenn Jugendliche es sich kaum vorstellen können: Es gab eine Zeit vor Google und Wikipedia, als man noch in Bibliotheken gehen und in Zettelkästen nach Literatur kramen musste. Der Historiker Peter Haber zeigt in einem Gastbeitrag, wie früher Wissen gesammelt und geordnet wurde - von der Bibliothek in Alexandria bis zu ersten Skizzen einer Maschine, die die gesamte Kommunikation eines Menschen abrufbar machen sollte.  
Google-Syndrom oder: Vom schalen Gefühl "danach"
von Peter Haber

Wer kennt es nicht, dieses Gefühl, das sich immer einstellt, wenn man mit Google oder einer anderen Suchmaschine etwas im Netz sucht: Auf der einen Seite ist man froh und gleichzeitig verblüfft darüber, dass sich heute zu fast jedem Thema irgendetwas finden lässt mit.

Auf der anderen Seite bleibt nach jeder Suche das schale Gefühl und der dräuende Verdacht, nicht alles gefunden zu haben, was man eigentlich hätte finden können. So sind die angezeigten Ergebnisse immer nur ein endlicher Ausschnitt aus dem unendlichen Allwissen, das Google uns zu erschließen scheint.
Wir alle googeln ...
Jedes Mal, wenn wir googeln, werden wir mit der Erfahrung einer permanenten, nicht hintergehbaren Abwesenheit von Wissen konfrontiert. Ich google, du googelst, wir alle googeln - wie ja unterdessen auch im Duden nachzulesen ist. Aber übrig bleiben immer diese Leerstellen.
... und durchsuchen Wikipedia
Das uralte Phantasma des Allwisens wird im Netz auf vielfältige Art und Weise bedient. Wikipedia zum Beispiel hat lange Zeit mit dem großartigen Spruch geworben: "Wir sammeln das Wissen der Menscheit - auch Deines ...".

Und gleichzeitig versucht sich Wikipedia in eine bestimmte historische Tradition einzuschreiben, zum Beispiel indem Wikipedia-Gründer Jimmy Wales in einem Interview sagt: "Wir spielen nicht nur auf einer Website herum, wir schaffen etwas, das neu in der Welt ist, das alle früheren Arbeiten an Enzyklopädien übertrifft. Man wird sich an Wikipedia in 2000 Jahren als die Bibliothek von Alexandrien unserer Zeit erinnern."
Anleihen bei Denis Diderot
Und der Wikipedia-Unterstützungsverein "Wikimedia Deutschland - Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens e.V." lässt seine Statuten mit einer Präambel beginnen, in der Denis Diderot zitiert wird, einer der führenden Köpfe bei der Konzeptionierung und Realisierung der berühten Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers.
...
Tagung "Vor Google"
Von 9. bis 11. Oktober 2008 veranstaltet das Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) im Lesesaal der Wienbibliothek im Rathaus eine Tagung zum Thema "Vor Google. Suchmaschinen im analogen Zeitalter". Im Zentrum steht die Geschichte von "Aufschreibesystemen, Datenverarbeitung und Übertragungstechnologien" und die Suche nach "Vorläufern" heutiger Suchmaschinen.
->   Alle Informationen zur Tagung
...
Lange Reihe von Versammlungsversuchen
 
Bild: Peter Haber

Es gibt in der Kulturgeschichte des Abendlandes eine lange Reihe von Versuchen, alles Wissen der Menschheit zu versammeln und es ist symptomatisch, dass heute, mit dem Internet, die Beschäftigung mit diesen Konzepten wieder zugenommen hat.

Die alexandrinische Bibliothek des Alterums war wohl der erste Versuch, alles Wissen nicht nur an einem Ort zu versammeln, sondern auch inhaltlich zu erschließen. Dazu wurden die ersten Katalogsysteme entwickelt, die sogenannten Pinakes.
Moderner Zettelkasten
Bild: Peter Haber
Die erdrückende Größe des Wissens
Einen Meilenstein stellt auch die Bibliotheca Universalis des Zürcher Arztes und Polyhistors Conrad Gesnner dar, in welcher er die bibliographischen Angaben zu allen gelehrten Schriften, die er finden konnte, verzeichnete.

Gleichzeitig schrieb er auch eine Anleitung, wie sich eine solche Arbeit bewältigen lässt und war somit der Geburtshelfer des modernen Zettelkastens.

Zu nennen sind sicherlich auch Melvil Dewey und Paul Otlet die Ende des 19., anfangs des 20. Jahrhunderts Klassifikationssysteme entwickelt hatten, mit denen jedes Thema erfassbar hätte sein sollen.

Systeme übrigens, die auch heute noch in vielen Bibliotheken auf der ganzen Welt Verwendung finden.
Visionäre Maschine
Die wirkungsmächtigste Vision in diesem Bereich stammt wohl von Vannevar Bush, der 1945 einen Aufsatz veröffentlichte, in welchem er eine Maschine skizzierte, die in der Lage sein sollte, alle Bücher, Notizen und die gesamte Kommunikation eines Menschen zu speichern und mechanisiert abrufbar zu machen.

Diese Maschine namens MEMEX wurde nie gebaut, aber sie beflügelte zahlreiche Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten.
...
Wissenschaftliche Sattelzeit
Man könnte - als Hypothese formuliert - sogar von einer wissensgeschichtlichen Sattelzeit sprechen, die mit dem Aufsatz von Bush beginnt und im September 1998 mit der Gründung von Google endet. In diesen Jahrzehnten wurden zahlreiche Konzepte und Theorien entwickelt, die dorthin geführt haben, wo wir heute stehen.
...
Erste Skizzen zu Suchmaschine
Aufgearbeitet ist diese Entwicklung erst in Ansätzen, viele Ideen sind im Laufe der Zeit wieder verschwunden und tauchen dann plötzlich wieder auf. So zum Beispiel das Konzept des Faceted Browsing, das seit einigen Jahren als der mögliche nächste grosse Hype im Bereich der Bibliothekskataloge gilt.

Das Konzept dazu wurde 1951 in Indien veröffentlicht, erste Skizzen zu dieser komplexen, aber sehr effizienten Suchmethode stammen vermutlich vom französischen Philosophen Condorcet, der sie in einem nicht veröffentlichten Manuskript Ende des 18. Jahrhunderts aufschrieb.
Google-Syndrom: Wissen ohne Geschichte
Das Google-Syndrom umfasst nicht nur die Leerstellen beim Suchen, sondern auch das Einwirken der gesellschaftlichen Konstruktionen von Wissen auf den ganz alltäglichen Umgang mit Information und Wissen.

Oder mit anderen Worten: Es geht um die im Zeitalter von Google um sich greifende Gleichsetzung von Information und Wissen, die Ausblendung also jeglicher Genealogie von Wissen.

Dies wiederum setzt voraus, dass Wissen als wertfrei und frei von ökonomischen, politischen oder kulturellen Einflüssen imaginiert wird und dass gleichzeitig diskursive Ordnungen des Wissens und der Darstellung von Wissen negiert werden.

[9.10.2008]
...
Zum Autor
Peter Haber ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsprojekt "digital.past | Geschichtswissenschaften im digitalen Zeitalter" der Universität Basel sowie Mitglied der Rezensionsredaktion von H-Soz-u-Kult. 2009 erscheint bei UTB das von ihm zusammen mit Martin Gasteiner (Wien) herausgegebene Buch "Digitale Arbeitstechniken für die Geistes- und Kulturwissenschaften". Er ist außerdem Mitbegründer der Netz-Plattform hist.net und aktiver Wissenschaftsblogger. Im Netz ist er durch seine Website respektive sein Weblog zu finden.
...
->   Google
->   Wikipedia
->   Vannevar Bush
->   Faceted Browsing
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010