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Der Mythos vom Schlafdefizit  
  Müde zu sein gehört heute schon fast zum guten Ton. Ständig erschöpft, überarbeitet und chronischer Schlafmangel - so sieht sich der moderne westliche Mensch gerne. Zudem wird der fehlende Schlaf immer häufiger mit Krankheiten und Übergewicht in Zusammenhang gebracht. Aber stimmt es überhaupt, dass wir zu wenig schlafen und macht uns das wirklich krank? Ein britischer Schlafforscher hält beide Behauptungen für übertrieben.  
Der Mensch schläft nämlich heute im Durchschnitt deutlich mehr als noch vor 150 Jahren und die gesundheitlichen Folgen von chronischem Schlafmangel seien in der Realität so gut wie vernachlässigbar. Davon schreibt Jim Horn, selbst Leiter des Schlafforschungszentrums der University of Loughborough, in der aktuellen Ausgabe des "New Scientist" (Bd. 200, 18. Oktober 2008).
Kollektive Schlaflosigkeit?
Das hektische Leben in unserer modernen Welt führt zu zunehmender kollektiver Schlaflosigkeit, so die weit verbreitete Annahme. Dabei hat sich die durchschnittliche Schlafdauer in den letzten 40 Jahren kaum verändert - zwischen sieben und 7,5 Stunden schläft ein gesunder Erwachsener. Das besagen laut Horn mehrere großflächige Studien.

Zahlreiche Laborstudien zum Schlaf haben das Thema allerdings ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und so auch die Klage über ein ständiges Schlafdefizit mit befördert, gibt sich der Forscher durchaus selbstkritisch.
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Endlich ausschlafen!
Außerdem entspricht es unserer Selbstwahrnehmung, dass wir durchaus länger schlafen könnten, man denke etwa an Feiertage oder Urlaub. Für viele ist das ein eindeutiges körperliches Signal dafür, dass ihnen im Alltag Schlaf fehlt.

Diesen Umkehrschluss hält Horn jedoch für nicht zulässig. Warum sollten wir nicht übermäßig schlafen können, so wie wir auch weit über unsere biologischen Bedürfnisse hinaus essen und trinken können?
Exzessives Schlafen
Die meisten Säugetiere schlafen mehr, wenn sie überfüttert, eingesperrt oder gelangweilt sind, wie etwa das Faultier. Im Zoo verbringt es durchschnittlich 16 Stunden schlafend, in der freien Wildbahn hingegen nur zehn.

Offenbar können wir die Schlafdauer den Umständen entsprechend nahezu beliebig erhöhen. Noch vor fünfzig Jahren änderte sich die Dosis bei Menschen jenseits des nördlichen Polarkreises während des Jahres signifikant, im Winter schliefen sie 14 und im Sommer lediglich sechs Stunden.
->   Faultiere: Agiler als gedacht (14.5.08)
Macht Schlafmangel wirklich dick?
Zu wenig Schlaf macht dick, das besagen zumindest einige Studien der letzten Jahre. Der Effekt ist laut Horn zwar messbar, aber nur wenn die tägliche Schlafdauer auf weniger als fünf Stunden sinkt.

Das betrifft etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Aber auch für die sei das Problem minimal und leicht auszugleichen, indem sie etwa pro Tag 30 Kilokalorien weniger zu sich nehmen.
->   Schlafmangel macht Kinder dick (2.1.08)
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Auch Diabetes-Risiko überschätzt
Eine andere Studie besagt, dass geringer Schlaf das Risiko, an Diabetes zu erkranken, erhöht. Durchgeführt wurde sie an jungen Erwachsenen, die mehrere Nächte nur mehr vier Stunden täglich schlafen durften. Tatsächlich zeigten sie am Ende Symptome einer beginnenden Zuckerkrankheit.

Nach einer "normalen" Nacht verschwand der Effekt. Außerdem hält Horn diese sehr geringe Schlafdauer für ein sehr künstliches Setting. Die meisten Menschen würden das nur wenige Tage durchhalten.
Wollen wir überhaupt mehr schlafen?
Horn selbst hat untersucht, ob denn unser subjektives Bedürfnis nach mehr Schlaf überhaupt den Tatsachen entspricht. Denn wer würde "Nein" sagen, auf die Frage, ob er gerne mehr schlafen möchte. Er vergleicht das mit Fragen nach mehr Geld, mehr Freizeit und Ähnlichem. Jeder wolle von allem immer mehr.

Für seine Studie hat er 11.000 Erwachsene sozusagen indirekt zu ihrem Schlafmangel befragt. Zuerst mussten sie beantworten, wann sie einschlafen und wann sie normalerweise wieder aufwachen, danach Angaben zu ihrem gefühlten Schlafbedürfnis machen. Anhand der Differenz wurde das Defizit berechnet. Zusätzlich wurden sie zu ihrer Schläfrigkeit tagsüber befragt.

Eine Hälfte der Befragten hatten ein Manko von durchschnittlich 25 Minuten. 20 Prozent litten unter extremer Tagesschläfrigkeit. Aber entgegen den Erwartungen waren keineswegs jene mit Defizit die Schläfrigsten, Horn konnte keinen direkten Zusammenhang zwischen beiden Größen feststellen.
Andere Bedürfnisse offenbar größer
Um zu überprüfen, ob die Testteilnehmer den Schlafmangels tatsächlich auch beheben möchten, stellten die Forscher eine weitere Frage: "Was würden sie tun, wenn der Tag eine Stunde mehr hätte?" Zur Auswahl standen neben Schlafen, Sport, Fernsehen und anderes.

Nur ein ganz kleiner Prozentsatz wählte Schlaf. Scheinbar hat der Wunsch nach mehr Schlaf weniger mit dem konkreten Bedürfnissen zu tun, als man meint, zumindest sind andere Interessen für die meisten doch wesentlicher.
Gefährlicher Mythos
Horn hält den Mythos des kollektiven Schlafmangels für gefährlich. Dadurch werde noch mehr unbegründete Sorge im Bereich Gesundheit und Lebensführung erzeugt. Nicht zuletzt steige so auch der Bedarf nach noch mehr Schlafmittel.

Dabei schläft der Durchschnittsmensch in Wirklichkeit heute mehr und unter viel besseren Bedingungen als je zuvor.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 16.10.08
->   New Scientist
->   Sleep Research Center, University of Loughborough
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01.01.2010