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"Frauen wollen keine Spezial-, sondern Gleichbehandlung"
Physik-Pionierin Mildred Dresselhaus im Interview
 
  Eine der ersten Frauen der modernen Physik war Lise Meitner, die vor 130 Jahren in Wien geboren wurde und mit den widrigen Umständen der Männerwelt zu kämpfen hatte. Zu ihren Ehren gibt es seit heuer eine Lecture-Reihe, deren erste Vortragende Mildred Dresselhaus vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) war. Die Expertin für Nanoröhrchen ist ebenfalls eine Pionierin der Physik.  
Die heute knapp 78-Jährige hat selbst gute und schlechte Erfahrungen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit gemacht. Seit 40 Jahren engagiert sie sich, die Situation von Frauen in den Naturwissenschaften zu verbessern.

Der Erfolg in manchen Bereichen gibt ihr Recht: Am MIT ist der Frauenanteil unter den Studierenden von vier auf 47 Prozent gestiegen. Aber noch ist viel zu tun, erklärt sie im science.ORF.at-Interview, in dem sie auch auf ihr bewegtes Leben zurückblickt.
Bild: Dresselhaus/University of Washington
Dresselhaus bei einer Ehrung an der University of Washington
science.ORF.at: Wann haben Sie zum ersten Mal von Lise Meitner gehört?

Mildred Dresselhaus: Mit 18 Jahren am Hunter College in New York. Ich war im zweiten Jahr in einem Physikkurs von Rosalyn Yalow, der Nuklearphysikerin und späteren Medizinnobelpreisträgerin. Es ging um Kernspaltung, dem Hauptthema von Meitner. Und nicht um die Probleme, die Meitner hatte, weil sie eine Frau war.

War Meitner jemals ein Vorbild für Sie?

Lise Meitner ist vor allem im deutschsprachigen Raum - und zu Unrecht noch nicht international - ein Vorbild. Für mich wichtiger war Marie Curie, deren Biographie von ihrer Tochter Eve ich schon als Kind gelesen habe.

Curies Leben und die Wissenschaft haben mich sehr fasziniert. Rosalyn Yalow war konkret wichtig für mich. Sie hatte wenige Studenten, ich war eine der Glücklichen, und sie hat mich dazu gebracht Physik zu studieren.
Sie stammen selbst aus einfachen Verhältnissen, wie sehr hat das den Weg zur Physik geprägt?

Ich war ein Migrantenkind und bin in der Bronx aufgewachsen. New York hat die besten und schlechtesten Schulen der USA, ich war in einer der schlechtesten. Über meine Musikerziehung habe ich andere Kinder kennengelernt, die auf bessere Schulen gegangen sind. Und so bin ich zur Hunter College High School gekommen.

Die Science Schools der Zeit waren ausschließlich männlichen Schülern vorbehalten. Das einzige Gegenbeispiel in ganz New York war das Hunter College, eine reine Mädchenschule, allerdings nicht für Science, sondern für Liberal Arts. 80 wurden pro Jahr aufgenommen, das war also sehr selektiv.
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Lise-Meitner-Lectures
Die Österreichische Physikalische Gesellschaft (ÖPG) und die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) haben zu Ehren der Physikerin, die vor 130 Jahren, am 17. November 1878 in Wien geboren wurde, die Lise-Meitner-Lectures ins Leben gerufen. Veranstaltungsorte sind Wien und Berlin, denn beide Städte waren wichtige Stationen im Leben von Meitner. Die Lectures sollen in Zukunft alljährlich stattfinden, jeweils mit einer anderen berühmten Wissenschaftlerin.
->   Lise-Meitner-Lectures
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Welche Erfahrungen haben Sie mit Ungleichbehandlung von Frauen in der Physik gemacht?

Als Undergraduate habe ich niemals gedacht, dass es später ein Problem sein könnte, als Physikerin zu arbeiten. Ich habe gute Erfahrungen gemacht sowohl am College als auch als Fulbright Fellow in Cambridge.

Bei meinem Jahr in Harvard habe ich die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen zum ersten Mal so richtig erlebt. Es gab getrennte Orte, wo Männer und Frauen ihre Experimente machten, die Männer wurden besser unterstützt etc. Ich fühlte mich wie eine Bürgerin zweiter Klasse. Erst 1972 wurde die Trennung zumindest formal beendet.

Ich wechselte von Harvard dann schnell nach Chicago, wo sich die wirklich guten Physiker der Zeit befanden, u.a. Enrico Fermi.
Fermi hat Sie sehr beeindruckt?

Ja. Und beeinflusst. Fermi war immer freundlich und ein sehr guter Lehrer, von ihm habe ich mehr übers Lernen gelernt als von den Pädagogen. Physik ist nämlich anders zu unterrichten als andere Fächer.

Fermis Idee war es, den Studierenden - vor allem den Erstsemestern - mit sehr einfachen Mitteln zu erklären, worum es geht. Auf der einen Seite gibt es die Mathematik, auf der anderen Seite das intuitive Gefühl, was man überhaupt macht. Und Fermi konnte beides miteinander verbinden. Er hatte immer Briefumschläge im Sakko eingesteckt, und es geschafft, auf der Rückseite in fünf Zeilen zusammenzufassen, was in einer komplizierten Studie steht.

Fermi hat auch immer konkrete Fragen gestellt zum Schluss seiner Stunden. Etwa: Wie tief kann man ein Loch in die Erde bohren? Klingt einfach, ist aber schwierig zu beantworten. Es ging ihm immer auch um die Anbindung an alltägliche Probleme.
Gibt es weitere persönliche Erfahrungen der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in der Physik?

Ein Doktorvater in Chicago meinte, dass in der Wissenschaft kein Platz für Frauen sei. Ich habe deshalb versucht, so gut es geht, mich von ihm fernzuhalten. Und er wusste gar nicht, was ich so mache.

Meine Doktorarbeit 1958 schrieb ich über die Supraleitfähigkeit, die Theorie dazu gab es erst seit 1957. Als ich einen Widerspruch zur Theorie entdeckte und veröffentlichte, war das gut für mich. Außerdem gab es in der Zeit noch den "Sputnik-Schock" und dadurch eine große Nachfrage nach Physikern - gute Voraussetzungen für meine Karriere.
Es gab also gute und schlechte Erfahrungen, wann haben sie selbst begonnen sich für mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Physik zu engagieren?

1968. Ich hatte die Visiting Professur am MIT, die von der ältesten Tochter der Rockefeller-Familie gestiftet worden war. Weil ich profitiert habe, habe ich mich revanchiert und um die - wenigen - anderen Frauen der Uni gekümmert.

Die Frauen wohnten in einem Gebäude auf der anderen Seite des Flusses. Im Winter war es sehr kalt, über die entsprechende Brücke zu gehen, so wie die gesamte Atmosphäre Frauen gegenüber frostig war. Eine der Absolventinnen stammte aus einer begüterten Familie und hat die damalige Rekordmenge an Geld gespendet, damit wurde ein neuer Schlafsaal gebaut diesseits des Flusses. Die Anzahl von Frauen hat sich sofort verdoppelt, von vier auf acht Prozent.

Auch die Zugangsvoraussetzungen waren diskriminierend: Bei Frauen wurde viel mehr verlangt, weil man dachte, sie würden es sonst nicht schaffen. Als das nicht zuletzt auf mein Bestreben hin geändert wurde, ist die Zahl von Frauen sofort weiter angestiegen. Heute arbeiten 47 Prozent am MIT und studieren Ingenieurswissenschaften.
Was sind die größten Unterschiede zwischen heute und damals?

Damals gab es viele Klassen ganz ohne Frauen. Heute sind sie überall, es gibt an jedem Department eine kritische Masse. Mit der Anzahl der Frauen haben sich auch ihre Erwartungen geändert. Als ich ans MIT kam, dachten die meisten, dass sie niemals Karriere machen könnten. Heute erwarten die Studentinnen viel mehr, sie glauben an ihre Karrierechancen. Dabei übersehen sie oft die gläserne Decke. Und das muss man ihnen manchmal sagen.
Was könnte man noch verbessern?

Sicherlich die Frage der Kinderbetreuung. Heute sind zumeist sowohl Mann als auch Frau berufstätig, das ist ein großer Unterschied zu früher. Wir arbeiten hart an Fragen der Lebensplanung, der Vereinbarkeit von Familie und Karriere. Es gibt dazu eigene Mentoring-Programme, die auch für Männer immer interessanter werden.
Beim Thema "Frauenförderung in Naturwissenschaften" beklagen sich - vermutlich männliche - User von science.ORF.at wiederholt über die vermeintlich unfaire Bevorzugung von Frauen. Was würden Sie ihnen antworten?

Frauen wollen keine Spezial-, sondern Gleichbehandlung. Für eine bestimmte Position sollte der Beste gewählt werden, unabhängig vom Geschlecht. Das ist das eine.

Das andere ist: Es gibt sehr oft viel mehr weibliche Studenten als weibliches Lehrpersonal. Mentoring ist ganz wichtig, da die meisten Frauen - und auch Männer - heute Karriere und Familie wollen. Wenn es aber deutlich weniger Professorinnen gibt, können sie Frauen kein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Mentoring anbieten. Die Bedürfnisse sind andere, Männer bekommen nun mal keine Kinder. Und das ist der Grund, warum Frauen bei gleicher Qualifikation an den Unis bevorzugt werden.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 23.10.08
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Lise-Meitner-Schwerpunkt in Radio Ö1
Aus Anlass des 40. Todestags widmet Ö1 der Physiker Lise Meitner einen zweiteiligen Schwerpunkt. Am Donnerstag, 23.10., ist ab 19.05 Uhr in der Sendereihe "Dimensionen" der zweite Teil unter dem Titel "Kungälv oder Die Kernspaltung im Kopf der Frau" zu hören.
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01.01.2010