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Die "geologische Kränkung"
Literatur und Geologie bei Charles Lyell und Adalbert Stifter
 
  Die Moderne wird gemeinhin als beschleunigtes Zeitalter angesehen. Der Germanist Peter Schnyder hält dem entgegen: Die Entdeckung der ungeheuren Dimension der Erdgeschichte war für die Ästhetik der Moderne ebenso prägend. Liest man etwa Adalbert Stifters "Nachsommer" im Kontext der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, führt das zu einem ganz anderen Bild als die herkömmliche Interpretation: Stifter wird in diesem Kontext zu einem Autor der "Tiefenzeit".  
Zeitliche Abgründe
Von Peter Schnyder

Freud hat drei zentrale "Kränkungen" des Menschen durch die Wissenschaft ausgemacht: eine "kosmologische" durch die kopernikanische Revolution, eine "biologische" durch die darwinistische Evolutionstheorie und schließlich eine durch die Psychologie.

Wie der amerikanische Wissenschaftshistoriker Stephen J. Gould bemerkte, fehlt in dieser Trias eine Kränkung, deren Auswirkungen auf die Moderne gar nicht überschätzt werden können: Diejenige durch die Entdeckung der geologischen "Tiefenzeit", durch die der überschaubare Rahmen einer christlich verstandenen Weltgeschichte von knapp 6.000 Jahren gesprengt wurde.

Nun wurden Zeiträume von vielen Jahrmillionen erahnbar, was die temporale Dimension der menschlichen Existenz in einem ganz neuen Licht erscheinen ließ. Es öffneten sich Zeit-Abgründe, bei deren intensiver Betrachtung man, wie Goethe kurz vor seinem Tod bemerkte, "wahnsinnig" werden könnte.
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Vortrag in Wien
Peter Schnyder hält am Montag, 27.10. 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Die 'geologische Kränkung'. Literatur und Geologie bei Charles Lyell und Adalbert Stifter".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   IFK
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"Ich kenne dich nicht"
Hatte die "kosmologische Kränkung" im 16. Jahrhundert eine räumliche Dezentrierung zur Folge gehabt, so ergab sich durch die Erschließung geologischer Zeiträume eine nicht minder beunruhigende temporale Marginalisierung des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur.

Überall wurde nun, wie Gotthilf Heinrich Schubert 1852 formulierte, eine Vergangenheit sichtbar, "welche zu dem Menschen saget: ich kenne dich nicht." Wann die Geschichte dieser Kränkung genau einsetzt, ist nicht einfach zu bestimmen. Verschiedene Spuren sind bereits in der Aufklärung auszumachen.

Breitenwirksam setzte sich die Vorstellung einer sich unendlich langsam entwickelnden Erdgeschichte allerdings erst im 19. Jahrhundert durch, und wie stark die heraufkommende Moderne dann von dem gleichermaßen faszinierenden wie erschreckenden Blick auf diese Geschichte geprägt wurde, erweist sich zunächst an der intensiven Rezeption naturwissenschaftlicher Werke, in denen frühere Entwicklungsstadien der Erde rekonstruiert wurden.
Ein Paläontologe als Dichter
Hier wurden gleichsam untergegangene Welten wieder neu geschaffen, und die Begeisterung auch des Laienpublikums über diese wissenschaftlichen Schöpfungsakte kannte kaum Grenzen: Honoré de Balzac etwa meinte, sein Landsmann Georges Cuvier sei mit seinen Arbeiten über die geologischen und zoologischen Verhältnisse in früheren Epochen der Erdgeschichte zum "größten Dichter des 19. Jahrhunderts" geworden.

Die neuen Entdeckungen wurden in einer Fülle von populärwissenschaftlichen Publikationen verbreitet, und wie das Beispiel Balzacs zeigt, hinterließ die Irritation und Faszination über die geologischen Forschungsergebnisse auch in der Literatur im engeren Sinne nachhaltige Spuren. Man denke nur an Goethes einschlägige Studien.
Unendlich langsame Vorgänge
Die Konzeption der Tiefenzeit hat wesentlich zu tun mit der Einsicht in die unendliche Langsamkeit geologischer Prozesse. Zumal im Lichte einer "aktualistischen" Theorie wie derjenigen des vielleicht bedeutendsten Geologen des 19. Jahrhunderts, Charles Lyell, das heißt im Lichte einer Theorie, die davon ausgeht, dass für die geologische Vergangenheit keine anderen Veränderungsprozess vorausgesetzt werden dürfen als solche, die auch noch in der Gegenwart im Gange sind, wurden damals viele geologische Phänomene erklärbar als (Zwischen-)Resultate einer unendlichen Akkumulation von beständig wiederholten Mikroveränderungen.

Hier wurde ein Entwicklungsrhythmus wenn nicht sicht- so doch denkbar, der in seiner Langsamkeit jenseits jeden menschlichen Maßstabs liegt; ein Rhythmus, der in schärfstem Gegensatz steht zur Beschleunigungskultur der heraufkommenden Moderne.

Ist die Diskussion um die Zeitkultur der Moderne und ihre ästhetischen Implikationen oft einseitig auf die dramatische Akzeleration des Lebens fokussiert, wird im Blick auf die intensive Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts mit der Tiefenzeit deutlich, dass das Moment der Beschleunigung immer in Relation zu sehen ist zum gleichzeitig erwachten Bewusstsein um eine Langsamkeit, die - so die These - ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist für die Ästhetik der Moderne.
Nachsommer, dynamisch gelesen
Heinrich Drendorf, der Protagonist und Ich-Erzähler von Adalbert Stifters Nachsommer (1857) meint einmal: "Wenn eine Geschichte des Nachdenkens und Forschens werth ist, so ist es die Geschichte der Erde, die ahnungsreichste, die reizendste, die es gibt, eine Geschichte, in welcher die der Menschen nur ein Einschiebsel ist, und wer weiß, welch ein kleines [...]."

Oft wurde Drendorfs Interesse an der Geologie und dem Reich der Steine als sprechender Beleg für die Momente der Statik und der Erstarrung in der Nachsommer-Welt angeführt. Liest man den Roman allerdings im Kontext der zeitgenössischen Wissenschaft, wird gerade über den Themenstrang der Geologie deutlich, dass dieser Text, in dem vordergründig eine zeitenthobene Idealwelt entworfen wird, geprägt ist vom Wissen um die (erd-)geschichtliche Relativität jeder Kultur.

Der Nachsommer ist kein Roman der Zeitlosigkeit. Er ist nicht Plädoyer für eine utopische Flucht aus der Zeit. Vielmehr ist er eine ausführliche Reflexion über die oft kaum spürbare, aber in ihren Wirkungen gewaltige Dynamik der Erdgeschichte. Und diese Reflexion bleibt dem Roman nicht nur äußerlich, sondern sie ist von grundlegender Bedeutung für seine Poetik.

[24.10.08]
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Zum Autor
Der Germanist Peter Schnyder war von 2002 bis 2008 Oberassistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich. In seiner Habilitationsschrift beschäftigte er sich mit dem "Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels in der Zeit von 1650-1850" (erscheint 2009 bei Wallstein). Forschungsaufenthalte an den Universitäten Gießen und Berkeley.
Publikationen: Die Epoche der Ver(un)sicherung. Zur literarischen Codierung der Moderne bei Kafka und Melville, in: Christine Abbt, Oliver Diggelmann (Hg.), Zweifelsfälle. Das Uneindeutige in Recht, Politik und Philosophie, Bern/Baden-Baden 2007, S. 29-45; gem. mit Michael Gamper (Hg.), Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfassbare Körper, Freiburg/Breisgau 2006.
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01.01.2010