News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Religion kontra Neurowissenschaft: Ein neuer Konflikt?  
  Schon seit Jahren befindet sich Darwins Evolutionstheorie im Kreuzfeuer der Proponenten des Intelligent Design (ID). Die Anzeichen mehren sich, dass gerade ein weiterer Wissenschaftsbereich in die Schusslinie der religiös motivierten Kritiker gerät, nämlich die Neurowissenschaften mit ihrer Sicht auf das menschliche Bewusstsein.  
Fehlende Erklärungen, wie denn aus der materiellen Basis des Gehirns überhaupt so etwas wie Bewusstsein entstehen kann, nützen Kreationisten, um alte Begriffe wieder ins Spiel zu bringen - den immateriellen Geist oder die Seele. Davon berichtet der "New Scientist" in seiner aktuellen Ausgabe.
Neuronales "Substrat"
Alles, was wir wahrnehmen, denken oder empfinden ist Teil unseres Bewusstseins. Wie dieses allerdings entsteht, gehört nach wie vor zu den großen ungelösten Rätseln der Menschheit. Nach Religion, Philosophie und Psychologie hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem die junge Disziplin der Neurowissenschaft dieser Frage angenommen.

Sie besagt, dass es für unser Bewusstsein, also für all unsere mentalen Zustände eine neuronale Grundlage gibt. Die messbaren Aktivitäten unseres Gehirns sind demnach sozusagen das Substrat unserer Bewusstseinszustände.
Erklärungslücken als Zündstoff
Bestimmte Bereiche unseres Gehirns haben genau zuordenbare Aufgaben, wie etwa die Sprachzentren und ständig werden neue Areale entdeckt. Dennoch: Viele Aktivitäten unserer Neuronen bleiben auch völlig unbewusst, wie etwa weite Teile des Kleinhirns.
Bleibt also die Frage: Wie wird ein neuronaler Zustand zu etwas bewusst Erlebtem oder Gedachtem?

Erklärungslücken wie diese liefern Kreationisten die Munition für ihren neuen Angriff mit der Absicht, den kartesianischen Dualismus von Körper und Geist - Materiellem und Immateriellem - neu aufleben zu lassen.
Neurowissenschaftler als Teil der ID-Bewegung
Besonders in den USA gibt es eine wachsende Gemeinschaft von Forschern und bereits eigene Konferenzen zum Thema - mit dem erklärten Ziel, eine nicht-materielle Neurowissenschaft zu etablieren.

Das Ganze ist Teil der wachsende Intelligent Design Bewegung, deren Hauptquartier das in Seattle ansässige Discovery Institute darstellt. Dieses fördert neuerdings auch Forschungen zur "immateriellen Neurowissenschaft".

Bei einer Veranstaltung der Einrichtung für Insider in New York im August 2008 waren gleich zwei der fünf geladenen Vortragenden Neurowissenschaftler, nämlich der Psychiater Jeffrey Schwartz und der kanadische Gehirnforscher Mario Beauregard, Mitautor des Buches "The Spiritual Brain: A neuroscientist's case for the existence of soul".
Bewusstseinsforschung als Grab des Darwinismus
Seine Co-Autorin Denyse O'Leary etwa hofft, dass die Bewusstseinsforschung letztendlich das Grab des Darwinismus sein wird. Für sie und seine Mitstreiter ist das Problem des menschlichen Bewusstseins - also wie unsere subjektiven Erfahrungen aus der objektiven Existenz der Neuronen entstehen - die Achillesferse der Evolutionstheorie sowie des wissenschaftlichen Materialismus im Allgemeinen.

James Porter Moreland, ein auch vom Discovery Institut geförderter Theologe, hat die neue Strömung in der Gehirnforschung etwa zu einer für einen Christen nicht ganz überraschenden Einsicht verholfen: Da Gott selbst Bewusstsein ist, braucht der Gläubige gar keine Erklärung dafür, wie es aus dem Materiellem entsteht, da es immer schon da war.
Experimente "belegen" einen Geist
Um zu zeigen, dass der Geist etwas Anderes ist als unser materielles Gehirn, greifen die kreationistischen Neurowissenschaftler auch auf Experimente zurück. So untersuchte Schwartz in den 1990er Jahren Menschen mit Zwangsstörungen. Mittels Gehirnscans wurde das spezifische neuronale Aktivitätsmuster der Patienten aufgezeichnet.

Daraufhin forderte der Psychiater die Probanden auf, aktiv ihre Denkprozesse zu ändern und siehe da: Das Aktivitätsmuster änderte sich tatsächlich. Für die Kreationisten Argument genug, dass es da etwa Anderes geben müsse, das bewusst und willentlich die Gehirnaktivität steuern kann. Man könne den Geist also gar nicht auf seine Materialität reduzieren.

Weiters entwickelt Schwartz gemeinsam mit dem Physiker Henry Stapp vom US-Department of Energy's Lawrence Berkeley National Laboratory neue Interpretationen der Quantenmechanik, um zu beschreiben wie der immaterielle Geist das physikalische Gehirn beeinflusst.
Besorgte Wissenschaft
Wissenschaftler auf der anderen Seite des Konflikts sehen diese neuen Entwicklungen mit großer Besorgnis. Der Druck, Erklärungen für das Bewusstseinsrätsel zu finden, steige. Aber wissenschaftlicher Fortschritt ist üblicherweise recht langsam, so John Searle von der University of Berkeley. Und allein die Tatsache, dass etwas derzeit nicht erklärt werden kann, kann nicht bedeuten, sämtliche Grundlagen umzuwerfen.

Natürlich hat sich in der wissenschaftlichen Weltsicht nach Newton einiges geändert, meint der Philosoph und Neurobiologe Owen Flanagan von der Duke University in North Carolina. So stellen etwa neue Erkenntnisse aus der Physik unseren bisherigen Begriff von Materialität in Frage. Dennoch ist er sich sicher: Was immer noch entdeckt werden wird, es wird nichts Übernatürliches sein.
Handfeste Argumente gegen Intelligent Design
Die Schlussfolgerung aus Schwartz Experiment - ein immaterieller Geist würde sozusagen unser physisches Gehirn manipulieren - hält er für absurd. Seine Erklärung ist ganz einfach und handfest: Ein mentaler Zustand verändert einen anderen mentalen Zustand, das Gehirn also das Gehirn.

Das spiegelt vermutlich die Meinung der meisten Wissenschaftler. Damit diese Sicht allerdings auch in der Öffentlichkeit ankommt, müssen sich diese - zumindest in den USA - gegenüber den Kreationisten in Zukunft wohl noch stärker anstrengen.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 27.10.08
->   Discovery Institute
->   Jeffrey Schwartz
->   Mario Beauregard
->   John Searle
->   Owen Flanagan
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   US-Forscher mobilisieren gegen Kreationisten (3.1.08)
->   Schöpfung und Evolution - zwischen Sein und Design (7.9.07)
->   Welle des Schöpfungsglaubens erfasst Europa (16.11.06)
->   US-Schulen: Rechtsstreit um Entstehung des Lebens (11.1.06)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010