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Anästhesie: Wann sind wir wirklich bewusstlos?  
  Vor einer Operation bekommt der Patient ein Anästhetikum verabreicht. Langsam verliert er das Bewusstsein, bis der Anästhesist sein Okay gibt, dass der Eingriff beginnen kann. Aber verschwindet mit der Betäubung wirklich jede Art von Bewusstsein, und wenn ja, woran kann man das erkennen?  
Antworten würden nicht nur zur Entwicklung besserer Betäubungsmittel beitragen, sondern auch der philosophischen Diskussion über den Sitz des Bewusstseins neue Impulse geben.
Trotz Betäubung bei vollem Bewusstsein
"Operiert bei vollem Bewusstsein", "Horror im Operationssaal" - solche bzw. ähnliche Geschichten von Menschen, die einen chirurgischen Eingriff bewusst, aber nicht reaktionsfähig erlebt haben, geistern in regelmäßigen Abständen durch die Medien.

Nicht ohne Grund, wie ein Team von Anästhesisten in "Science" (Band 322, S. 876-880, DOI: 10.1126/science.1149213) schreibt. Denn alle tausend bis zweitausend Operationen könne es passieren, dass der Patient durch die Betäubung das Bewusstsein nicht verliert.
Bewusstsein im Gehirn sichtbar?
"Wie Bewusstsein im Gehirn entsteht, ist unbekannt. Unsere Unwissenheit hat uns aber nicht davon abgehalten, Anästhetika routinemäßig zur Auslöschung des Bewusstseins während eines operativen Eingriffs zu verwenden", formulieren Michael Alkire, Anthony Hudetz und Giulio Tononi drastisch.

Zwar beruhigen sie gleich wieder mit dem Satz, dass man immer mehr über die grundlegenden Prinzipien wisse, nach denen Betäubungsmittel funktionieren. Letztlich greifen sie aber mit ihrem Beitrag eine medizinisch und philosophisch spannende Frage auf: Lässt sich das Bewusstsein anhand spezieller Reaktionen und Funktionen des Gehirns festmachen?
Reaktion auf äußere Befehle
Um die Ausschaltung des Bewusstseins zu überprüfen, gibt es eine ganze Reihe von Tests. Vor 160 Jahren legte man es als Standard in der Anästhesie fest, den Zustand der Bewusstlosigkeit dadurch zu überprüfen, ob ein Mensch auf einen Befehl von außen noch reagieren kann. Blieb die Reaktion aus, galt der Patient als bewusstlos.

Heute weiß man, dass allein die Reaktionslosigkeit keinesfalls etwas über den inneren Zustand eines Patienten erzählt. Schließlich kann man auch im Traum nicht Befehlen von außen folgen, niemand würde aber den REM-Schlaf mit Bewusstlosigkeit gleichsetzen.
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Zwei Klassen von Anästhetika
Grundsätzlich unterscheidet man je nach Art der Verabreichung zwei Arten von Betäubungsmitteln: die intravenös verabreichten, denen meist Beruhigungsmittel oder Narkotika beigemischt sind; und die flüchtigen, die meist zur Aufrechterhaltung der Betäubung eingesetzt werden.
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Ionkanäle der Nervenzellen werden verändert
Moderne Anästhetika wirken, soweit weiß man heute bescheid, über den Ionenkanal von Nervenzellen, der für die Reizübertragung zuständig ist. Je nachdem, welches Betäubungsmittel eingesetzt wird, reagieren die Ionenkanäle anders.

In jedem Fall verändern sich aber die Aktivitätsmuster der Nervenzellen, die immer mehr in eine Art Tiefschlaf fallen, was sich mittels Elektroenzephalogramm (EEG) überprüfen lässt.
"Bewusstseinsschalter" Thalamus?
Aber reicht ein typisches EEG-Muster schon aus, um auf absolute Bewusstlosigkeit zu schließen? "Nein", meinen Alkire und Kollegen, denn es komme auch darauf an, wo genau die Aktivität der Nervenzellen zurückgefahren wird. Ihrer Analyse nach ist der Thalamus, der größte Teil des Zwischenhirns, so etwas wie ein "Bewusstseinsschalter".

Werden Blutfluss und metabolische Aktivität im Thalamus künstlich reduziert, stellt sich sofort eine Art Tiefschlaf ein. Im Gegenzug wurden Mäuse, denen eine aktivierende Substanz direkt in den Thalamus injiziert wurde, sofort wieder munter.
Kommunikation mit Hirnrinde
 
Bild: Science

Dennoch gibt es aber Hinweise, dass der Thalamus alleine nicht verantwortlich für Verlust bzw. Wiedererlangen des Bewusstseins ist, sondern in enger Kommunikation mit der Hirnrinde steht. Gleichzeitig mit einer heruntergefahrenen Aktivität des Thalamus werden nämlich auch Teile des Frontallappens der Großhirnrinde lahmgelegt - sowohl bei künstlicher Betäubung wie auch bei einem Koma (siehe schematische Darstellung oben).

Dennoch scheint aber auch in dieser Kombination aus unterschiedlichen Gehirnteilen nicht das Bewusstsein zu sitzen, denn viele Aktivitätsmuster, die im anästhesierten Zustand beobachtet werden, würden auch im Schlaf ähnlich aussehen - wobei Patienten nach dem Schlafen von besonders intensiven Träumen berichten.
Bewusstsein: Aus vielen Teilen ein Ganzes machen
Auf ihrer Suche nach dem Sitz des Bewusstseins greifen Alkire und Kollegen eine Theorie auf, die weit in die Philosophie und Linguistik reicht: Bewusstsein bedeutet, aus vielen einzelnen Informationen ein ganzes Bild machen zu können.

"Informationen zu einem integrierten Bild zusammensetzen zu können, scheint die Essenz des Bewusstseins zu sein", schreiben die Forscher denn auch in "Science". Auf das Gehirn umgelegt bedeutet das, dass das Lahmlegen jener Teile, die für die Zusammenführung einzelner Informationen zuständig sind, auch den Verlust des Bewusstseins bedeuten würde.
Bruchstücke bleiben Einzelteile
 
Bild: Science

Anästhetika führen nicht nur zu einer verminderten Aktivität der Nervenzellen, sie behindern auch die Kommunikation entfernter Teile, etwa des Thalamus und wichtigen Zentren der Gehirnrinde. Die Patienten verlieren damit die Fähigkeit, aus Bruchstücken ein ganzes Bild zusammenzusetzen bzw. können den Einzelteilen keine Information mehr entnehmen (siehe Bild oben).

Folgt man dieser Theorie, würde das die Entwicklung neuer Überwachungsinstrumente für anästhesierte Patienten erfordern: Sie müssten sowohl überprüfen, ob die Reizweitergabe zwischen Gehirnteilen, die für die Verarbeitung von Information zuständig sind, ausgeschaltet ist, als auch die Aktivität einzelner Verarbeitungszentren beobachten.
Komplexes Phänomen
Aus der Kombination beider Faktoren könnte auf den Bewusstseinszustand des Patienten geschlossen werden - so lautet zumindest die vorläufige Antwort von Anästhesisten auf die Frage nach dem Bewusstsein.

Dass die Philosophie und auch die Religion andere Antworten finden, ist klar. Das Phänomen des Bewusstseins scheint komplex genug, um unterschiedliche Herangehensweisen nicht nur zu vertragen, sondern geradezu herauszufordern.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 10.11.08
->   Michael Alkire
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01.01.2010