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Großzügigkeit: Die Gabe als Ursprung sozialen Lebens  
  Für Großzügigkeit, Güte und Verschwendung gibt es wenig Platz in einer Gesellschaft, die von einer tiefgehenden Krise der Ökonomie geprägt ist. Da braucht es schon Anlässe wie Weihnachten, um eine offizielle Begründung für Freigiebigkeit zu haben. Großzügigkeit in ihren diversen Formen wurde in der europäischen Geistesgeschichte ganz unterschiedlich thematisiert.  
Ihr Stellenwert im philosophischen Rückblick wurde diesen Herbst bei der Tagung "Sich verschwenden - Großzügigkeit und Generosität" der Evangelischen Akademie in Tutzing (Deutschland) erörtert.
Die Narrheit der Großzügigkeit
Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel spricht von "beziehungsreichen Ausdrucksmedien für Liebe, Fürsorge und Vertrauen", in denen die Großzügigkeit eine wesentliche Rolle spielt.

Nach der Verwertungslogik des Kapitals ist der großzügige Mensch ein Narr, der gegen alle Regeln der wirtschaftlichen Vernunft verstößt. Das (Sich)-Verschwenden, das Verschenken entspricht nicht dem Nützlichkeitsprinzip der kapitalistischen Gesellschaft.
Die Gabe
Übersehen wird dabei meist, dass der Ursprung des sozialen Lebens die Gabe bildete. Der komplexe Prozess des Austauschs von Gaben ist der Schlüssel für das Verständnis von Zivilisation überhaupt.

Der französische Ethnologe Marcel Mauss, der von 1872 bis 1950 lebte, zeigte am Beispiel archaischer Gesellschaften, dass der komplexe Ablauf von Geben und Nehmen etwas wie Gesellschaft erst begründete.

Durch den Austausch von Gaben, durch "eine unproduktive Verausgabung", haben die archaischen Gesellschaften gelernt, "einander gegenüberzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen" (Mauss).
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Die Gnade
Im Verlauf der abendländischen Geschichte kam es zu verschiedenen Ausformungen der Gabe. So präsentiert sie sich im Mittelalter als Gnade, als ein Akt der freien Zuwendung eines Höheren (Kirche oder Staat). Derjenige, der Gnade walten lässt, fühlte sich der paulinischen Forderung "nach einem milden Umgang" verpflichtet: Er gibt etwas, worauf der Empfänger keinen Anspruch hat. Ein Evangelium der Gnade sollte das sittliche Verhalten der Menschen bestimmen.
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Ideale christliche Gemeinschaft
Von Wolfgang Weber, der am Europäischen Institut für Kulturgeschichte in Augsburg tätig ist, stammt der Hinweis, wie die Forderung "nach einem milden Umgang" der Menschen miteinander rund 1600 Jahre später aufgenommen wurde. Der evangelische Theologe Johann Valentin Andrae, der von 1586 bis 1654 lebte, schildert in seinem Buch "Christianopolis" einen utopischen Staat, in dem eine ideale christliche Gemeinschaft realisiert ist.

Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen darin "in vollkommener Freundschaft verbunden sind, vollkommene Höflichkeit besitzen und von einer vollkommenen Großmut durchdrungen sind". Dies ist nur möglich, wenn die christlichen Gebote nicht nur als Theorie aufgefasst werden, sondern auch gelebt werden. "Es ist lächerlich", schrieb Andreae, "andere zu etwas zu ermahnen, das zur eigenen Lebensweise in Widerspruch steht".
Gegen autoritäre Kirche
Diese Vorstellung einer idealen christlichen Gemeinschaft, die von der Großmut getragen wird, steht im Widerspruch zur Praxis der christlichen Kirche. "Wie wäre es" - so Andreae - wenn die Kirche das, was sie glaubt, auch im Leben praktizieren würde?"

Wolfgang Weber wies auch darauf hin, dass bereits der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues 1434 sich in seiner Schrift "Concordantia Catholica" gegen den Absolutheitsanspruch des Papstes wandte. Er sprach hingegen von "der Gleichheit und Begnadetheit aller Menschen als Ebenbilder Gottes".
Der Mensch als ökonomisches Tier
Der Siegeszug des Kapitalismus hat dann den Menschen zu einem "ökonomischen Tier" (Mauss) gemacht. Der Triumph des ökonomischen Nutzenkalküls rief eine Gegenströmung hervor, die Großzügigkeit und Verausgabung propagierte.

Die Haltung der Großzügigkeit vertraten Emmanuel Lévinas und Jean Paul Sartre. Für Lévinas ist die großzügige Haltung die Grundbedingung menschlicher Kommunikation und Sartre bezeichnet in seinem Entwurf für eine Ethik die Großzügigkeit als "Fähigkeit, grundlos von Ansprüchen und Forderungen abzusehen, sich selbst zu geben, sich selbst hinzugeben".
Unproduktive Verausgabung
Die wesentliche philosophische Theorie über die Verschwendung/Verausgabung im 20. Jahrhundert formulierte der französische Philosoph und Schriftsteller Georges Bataille.

Er wandte sich gegen das klassische Ideal der Nützlichkeit und gegen den Produktivitätswahn, wie der in Mannheim lehrende Literaturwissenschafter Jochen Hörisch in seinem Buch "Über Verausgabung" betont. Bataille plädiert für eine "unproduktive Verausgabung", für all die Formen wie "Luxus, die Kulte, die Spiele, die Schauspiele, die Künste, die sexuelle Tätigkeit".
Nicht auf menschliche Qualitäten vergessen
Es wäre illusorisch, angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Situation, die Bedeutung von Batailles Theorie der Verausgabung überzubewerten. Aber sie kann als Aufforderung gesehen werden, inmitten des kapitalistischen Nützlichkeitsfurors nicht auf menschliche Qualitäten wie Großzügigkeit zu vergessen.

Nikolaus Halmer, science.ORF.at, 24.12.08
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Literaturtipps
Marcel Mauss: Die Gabe, suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Johann Valentin Andreae: Christianopolis, Reclam, Band 9786
Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie, Matthes& Seitz Verlag
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01.01.2010