News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Technologie 
 
"Weisheit der Gutenberg-Räuber und Online-Kopisten"
Medienwissenschaftler Weber über das Web 2.0.
 
  Demokratisieren E-Learning, Web 2.0. und Google den Zugang zu Informationen und sorgen somit für das Fundament einer neuen Wissensgesellschaft? Oder verflachen und zerstückeln sie vielmehr unsere Text- bzw. Wissenskultur? Der Medienwissenschaftler Stefan Weber glaubt eher letzteres. In einem E-Mail-Interview kritisiert er aber vor allem das Fehlen empirischer Studien zu diesen Fragen.  
Wie schon im Titel seines aktuellen Buches warnt der oft als "Plagiatsjäger" bezeichnete Universitätslektor vor der "Medialisierungsfalle".
science.ORF.at: In Ihrem Buch skizzieren Sie sich selbst als einen der wenigen Kritiker am digitalen Zeitgeist im deutschsprachigen Raum. Warum ist Kritik an Wikipedia & Co. Ihrer Ansicht nach so wenig populär?

In der Medienwissenschaft, aus der ich komme, ist Kritik an den neuen Medien seit der Überwindung der Kritischen Theorie nahezu tabu. Ich beschreibe in meinem Buch, wie sich Medienwissenschaftler mittlerweile eher als Dienstleister und PR-Agenten der Medienindustrie verstehen. Es gibt in Deutschland akademische Computerspiel-Forscher, die direkt von der Spieleindustrie finanziert werden. In einem solchen Milieu können Google, Wikipedia & Co. nicht mehr kritisiert werden, es werden auch empirisch die falschen Fragen gestellt.

In Politik und Gesellschaft ist es so: Wer das Internet und insbesondere das Web 2.0 in Frage stellt, wird sofort als rückständig gebrandmarkt. Im Wettbewerb um den besten Standort kann man nicht mehr mit buchkulturellen Projekten punkten, sondern nur noch mit Wikis und Ähnlichem - egal, ob die Inhalte noch so schleißig plagiiert wurden oder nicht.

Und der Alltagskonsument kann einer Kritik an Wikipedia & Co. ebenfalls wenig abgewinnen: Wer ein Wehwehchen googelt und Wikipedia oder netdoktor.de konsultiert, der glaubt, alles zu bekommen, was er wissen muss - rasch und ohne lästig einen Experten konsultieren zu müssen. Dass sich damit der gesamte Wissenskosmos verschiebt, etwa in Webforen nahezu jede Krankheit irgendwo mit Lebensgefahr assoziiert wird und zunehmend Alltagstheorien das Expertenwissen überlagern, wird nicht als Nachteil empfunden.
...
Das Buch von Stefan Weber "Die Medialisierungsfalle. Kritik des digitalen Zeitgeists" ist im Verlag Edition Va Bene, 2008 erschienen.
->   Mehr über das Buch
...
Wie könnte eine neue kritische Medientheorie ausschauen, die sie vermissen und die womöglich noch konstruktiv ist?

Am wichtigsten wäre wohl, diese zunächst empirisch neuartig zu unterfüttern. Studien müssten sich mit dem Wandel der Text-, Wissens- und Lernkultur durch das Internet beschäftigen. Derzeit geschieht dies fast nur punktuell und affirmativ als Auftragsforschung, das heißt, es steht im Vorhinein fest, dass positiv evaluiert wird. Ich möchte natürlich keine Forschung anregen, die von vornherein ein negatives Bild hat und dann Daten so konstruiert, dass sie automatisch auf eine Verschlechterung hinweisen - das wäre derselbe Betrug.

Ich würde mir nur wünschen, dass endlich einmal die richtigen Fragen gestellt werden: Wie änderte sich das Recherchierverhalten, das Suchen und Finden von Information vom Schlagwortkatalog der Bibliothek zu Google, vom gedruckten Konversationslexikon zur Wikipedia? Wie änderte sich die Erreichbarkeit von Öffentlichkeit vom Klatsch und Tratsch am Stammtisch und anderswo zu den Foren des Web? Was ist mit der Contentqualität in den vergangenen zehn bis 15 Jahren passiert? Wie änderten sich das Lesen und das Produzieren von Texten?

Sie werden kaum medienwissenschaftliche Arbeiten finden, die sich damit beschäftigen. Das ist ein gewaltiges Versäumnis. Vor einigen Monaten staunte ich, dass es etwa in Österreich keine einzige Hochschulschrift zu Google gibt. Auch keine zum Copy-Paste-Phänomen. Meine Sammlung von 67 Plagiatsfällen und meine zahlreichen Fallbeispiele aus den Bereichen E-Learning und Web 2.0 weisen auf einen herben Qualitätsverlust der Inhalte hin - hauptsächlich bedingt durch den Einsatz der neuen Medien. Sollte sich dieser auch in größeren empirischen Studien bestätigen, wäre dies das Fundament für eine neue Medienkritik.
Wie sieht das in anderen Ländern aus, vor allem den USA, wo ja durchaus diskutiert wird über die Vor- und Nachteile der neuen Medien unter Stichworten wie "wisdom of the crowds", "digitaler Maoismus" etc.?

Ja, nahezu die gesamte relevante Literatur kommt derzeit aus Amerika und England - etwa Bücher wie "The Cult of the Amateur" (dt. "Die Stunde der Stümper") oder "Against the Machine", um zwei aktuelle Werke zu nennen, die sich fast ausnahmslos mit den negativen Aspekten beschäftigen.

Ich betone, das ist - wie bei meinem Buch - keine verengte Perspektive, sondern das notwendige Gegengewicht zu Büchern, die uns erklären, dass ausnahmslos alles besser wird mit den neuen Medien - von "Everything Bad is Good for You" bis zu "Here Comes Everybody". Freilich machen Sachbücher im amerikanisch-erzählerischen Stil noch keine Medientheorie aus. Ein etwas systematischerer kritischer Ansatz zu Google, Wikis und Blogs ist bei Tara Brabazon zu finden ("The Google Effect").

Ein wichtiger Einfluss auf mich war ihr Buch "The University of Google", eine hierzulande kaum beachtete Streitschrift gegen den unüberlegten Einsatz neuer Medien in der Lehre. Die von Ihnen erwähnte "wisdom of the crowds" bezeichne ich in meinem Buch übrigens als die "Weisheit der Gutenberg-Räuber und Online-Kopisten". Auch zur Wikipedia gibt es, nebenbei bemerkt, bis auf einen Zeitschriftenbeitrag keine kritischen Arbeiten. Das ist doch schon etwas sonderbar - in Deutschland derzeit die drittbeliebteste Seite im Netz, und niemand untersucht empirisch die mutmaßlich negativen Aspekte.
Was ist der Hauptvorwurf, den Sie "dem Web 2.0" machen, vielleicht illustriert anhand von Beispielen, die Sie bei Ihren Recherchen im Uni-Bereich beobachtet haben?

Ein weites Feld! Der Hauptvorwurf lautet: Das Web 2.0 trägt zu einer Verflachung der Textkultur und Zerstückelung der Wissenskultur bei. Zunächst habe ich Beispiele dafür gesammelt, dass in Einträgen der Wikipedia aus älteren Print-Titeln plagiiert wurde und auch Texte aus Büchern so "verwurstet" wurden, dass inhaltlicher Bullshit daraus wurde. Konkret geht es um mehrere Einträge aus meinem Bereich, aus der Medienwissenschaft. Auch viele biographische Einträge sind einfach aus Biographien von anderen Webseiten kopiert und vielleicht ein bisschen umgeschrieben worden. Ich sehe da einfach große Probleme mit der Referenz- und Zitationskultur und damit auch mit der Überprüfbarkeit und Konsistenz von Informationen.

Dann gibt es natürlich zahlreiche Beispiele dafür, dass nicht in, sondern aus der Wikipedia plagiiert wurde. So etwa in einem von mir kritisierten Web 2.0-Schulklassenprojekt. In einem anderen Fall wurden in einem lokalen Wiki-Projekt einer österreichischen Tageszeitung mehrere Wikipedia-Einträge ohne Quellennennung ein wenig umgeschrieben, erneut ohne die Lizenzbedingungen einzuhalten. Knapp ein dutzend Fälle von Journalisten, die sich bei der Wikipedia ohne Quellennennung "bedient" haben, sind dokumentiert. Freilich kann man immer sagen: alles nur einige wenige Einzelfälle. Aber solange sich niemand das systematisch anschaut, werden wir nie wissen, ob es ein paar schwarze Schafe unter vielen weißen sind oder umgekehrt.
Und dann gibt es noch den Verdacht der "web collusion", der betrügerischen Zusammenarbeit in Web 2.0-Portalen wie StudiVZ, SchülerVZ oder auch Facebook. Die Plagiatsexpertin Debora Weber-Wulff behauptet aktuell, dass Studierende zunehmend über simples Copy/Paste hinausgehen und Textpartikel von schriftlichen Arbeiten auf sozialen Netzwerken wild zirkulieren. Ein konkreter Fall wird hier sehr schwer nachzuweisen sein, aber wenn Sie sich etwa ansehen, in welchem Ausmaß bereits Antworten auf Prüfungsfragen und Stichwort-Kompilationen von Prüfungsliteratur auf Plattformen wie etwa unihelp.cc zirkulieren (ein Beispiel: Posting von "dersepp", 26. Juni 2008, 22:12 Uhr
In der Musik heißt "Verwursten" oft "Remix", zu dem man - falls gelungen - wie zum Original gut tanzen kann. Mit anderen Worten: Steht Zerstückelung und Wiederzusammensetzung von Informationen kritischem Bewusstsein tatsächlich entgegen oder ist es nicht eher eine Frage, wie man das macht?

Es ist zunächst keine Frage nach dem Wie, sondern nach dem Wo: In welchem sozialen System passiert der Remix? In der Kunst kann das Rekombinieren und Verfremden existierender Versatzstücke ohne Quellenangabe als Culture Jamming oder Appropriation jedweder Art absolut spannend sein - ich höre übrigens selbst gerne Musik von Negativland, Tape-Beatles, People Like Us u. a., um einige Vertreter der aktuellen Plunder Culture, der Kultur des Klauens, zu nennen.

Das ist eine komplett andere Baustelle als die Wissenschaft. Man muss gar kein strenger Luhmannianer sein, um das zu unterscheiden. Andernfalls enden wir in postmoderner Beliebigkeit, in der Sie eine akademische Dissertation von experimenteller Prosa nicht mehr unterscheiden können. Eine Dissertation wird geschrieben, um einen Doktorgrad zu erlangen. In dem Werk müssen neue wissenschaftliche Erkenntnisse enthalten sein. Dafür gibt es klare Spielregeln (Zitationsvorschriften) und auch ethische Standards (die lange vorausgesetzt wurden und nun immer deutlicher formuliert werden).

Sampling und Remix im Kunstsystem, in Musik, Film und Literatur sind komplett andere Terrains. Wenn wir das verwischen, können wir den akademischen Laden zusperren. Und zu Ihrer Frage nach dem Zusammenhang zwischen kritischem Bewusstsein und Kopieren zitiere ich den Plagiatsaufdecker-Kollegen Benjamin Lahusen: "Der Kopie ist Kritik per definitionem fremd." (Der golden Weg)
Abschlussfrage: In Ihrem Buch kritisieren Sie auch so manche Praxis beim E-Mailen. Wie schlimm war es in diesem, unseren Fall?

Ich will nun nicht krampfhaft bei meiner Negativbewertung bleiben, aber ich stellte fest: Wenn E-Mails öfter hin und her gehen und man immer wieder seine Antworten auf bereits gestellte Fragen liest, kommen einem immer wieder neue Antwortmöglichkeiten in den Sinn. Der Text wird so zu einem gewissen Grad dynamisch und offen, mit der permanenten Möglichkeit der Nach-Editierung, ganz wie bei Wikis.

Außerdem bestimmt das Medium E-Mail stark den Inhalt und die Qualitätskontrolle. Sie bemerken das, wenn Sie einen Text aus Ihrem E-Mail-Programm in Ihr Textverarbeitungsprogramm kopieren, diesen in gewohntem Layout ausdrucken und ihn dann in aller Ruhe am Sofa lesen. Ich wette, Sie entdecken neue Fehler, Auslassungen und womöglich auch logische Inkonsistenzen.

Unsere Hirne sind eben noch nicht so weit wie die technischen Möglichkeiten. Insoferne sollten wir unsere Hirne upgraden und nicht die Technologien. Stichwort: Media Literacy.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 1.12.08
->   Publikationsliste Stefan Weber
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Suchmaschinen: Forscher debattieren Risiken
->   Die Eroberung der Bibliotheken durch das Internet
->   Archiv zum Thema "Plagiate"
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Technologie 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010