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Übertretung sozialer Normen ist ansteckend  
  "Graffitis sind Kunst und kein Verbrechen", heißt es in der Graffiti-Szene. Mitunter können sie aber dazu führen, berichten niederländische Forscher. Wenn das Bemalen von Wänden verboten ist und sie dennoch von Graffiti geziert werden, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit von sozial abweichendem und kriminellem Verhalten.  
Menschen sind dann eher geneigt, Abfälle auf die Straße zu werfen und sogar zu stehlen, berichten der Sozialwissenschaftler Kees Keizer von der Universität Groningen und sein Team in einer Studie.

Damit sich das Fehlverhalten nicht ausbreitet, müsse man ihm so früh wie möglich Einhalt gebieten, folgern die Forscher. Damit geben sie einer Politik recht, die unter dem Namen "Null Toleranz" gegenüber Verbrechen vor fünfzehn Jahren in New York initiiert wurde.
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Die Studie "The spreading of disorder" ist am 20.11.08 online in "Science" erschienen (doi:10.1126.science.1161405).
->   Abstract
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1969: Ein klassisches Psychologie-Experiment
Die Geschichte beginnt bereits 1969. Damals führte der Psychologe Philip Zimbardo ein Experiment mit nachhaltigen Konsequenzen durch. Er stellte zwei Autos ab, das eine in der sozial benachteiligten Bronx von New York, das andere in der beschaulichen Kleinstadt Palo Alto. Beiden fehlten die Nummernschilder, bei beiden waren die Motorhauben geöffnet. Das Auto in der Bronx wurde in kürzester Zeit geplündert, jenes in Kalifornien blieb eine Woche lang unberührt.

Auf diese Beobachtungen griffen die beiden Sozialwissenschaftler George Kelling und James Wilson zurück, als sie 1982 ihre "Broken-Windows-Theorie" formulierten. Ihr zufolge können bereits kleinere Verstöße gegen soziale Normen - wie etwa ein eingeschlagenes Fenster, das nicht repariert wird - große Folgewirkungen haben: weitere Verstöße gegen sozial akzeptiertes Verhalten, Entstehen einer Kultur des Wegschauens, Verwahrlosung ganzer Wohnviertel, bis hin zum Anstieg von - auch schwerer - Kriminalität.
Zero Tolerance gegen Broken Windows
Was Kelling und Wilson erstmals in der konservativen Zeitschrift "The Atlantic" veröffentlicht haben (März 1982), wurde später politisch angewandt.

Als Antwort auf die "Broken Windows" wurde unter dem republikanischen Bürgermeister von New York, Rudy Giuliani, in den 1990er Jahren die Losung "Zero Tolerance" ausgegeben - null Toleranz bezog sich dabei nicht nur auf zerborstene Fenster, sondern auch auf hartes Durchgreifen der Polizei auch bei kleineren Vergehen wie Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder eben Graffitis.
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Umstrittener Verbrechensrückgang
Im Zuge der "Null-Toleranz-Politik" ist die Verbrechensrate in New York stark zurückgegangen. Ob dies tatsächlich an der Politik gelegen hat oder an anderen Faktoren - wie etwa einer gesunkenen Geburtsrate und einer Änderung des Drogenmarktes -, bleibt unter Fachleuten bis heute umstritten.
->   Zero Tolerance und Kritik daran (Wikipedia)
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"Fietse" überprüfen Theorie
Aus wissenschaftlicher Sicht erstaunlich ist, dass die Voraussetzungen für die Formulierung der "Broken-Windows-Theorie" bis heute kaum empirisch untersucht worden sind. Genau das liefern nun die niederländischen Forscher nach. Und zwar durch eine Reihe von höchst innovativen Experimenten, bei denen die Teilnehmer nicht wussten, dass sie Teil derselben waren.

Grundannahme war dabei, dass die Übertretung einer expliziten sozialen Norm Menschen dazu veranlasst, diese oder andere Normen selbst auch eher zu übertreten.

Um dies zu überprüfen haben die Forscher eine für die Niederlande sehr typische Versuchssituation geschaffen: Auf einem Abstellplatz für "Fietse" (niederländisch für Fahrrad) montierten sie ein weithin sichtbares "Graffiti verboten"- Schild, auf die Radlenker hängten sie Werbezettel für ein imaginäres Sportgeschäft.
Beschmierte Wände: Weitere Normüberschreitungen
 
Bild: Kees Keizer/Science

In der einen Versuchssituation waren die Wände mit Graffiti beschmiert, in der anderen blieben sie sauber (siehe Bild oben), in beiden Fällen gab es keinen Mistkübel zur Entsorgung der Flyer. Die Frage war nun, wie viele Menschen die Werbezettel auf die Straße werfen würden.

Das Ergebnis: Bei den Graffiti-Wänden waren es 69 Prozent, bei den sauberen Wänden bloß 33 Prozent. Die Übertretung der sozialen Norm "keine Graffiti" hatte also die Wahrscheinlichkeit der Regelverletzung "Nichts wegwerfen" erhöht.
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Nichts gegen Graffiti an sich
Der Unterschied ist zwar signifikant, sagt aber nichts über den Wert der - zugegeben nicht besonders hübschen - Graffitis aus. Denn untersucht wurde nicht die Wirkung der Wandmalereien an sich, sondern die Wirkung, die das Übertreten ihres Verbots auslöst.
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Verbotene Abkürzungen
 
Bild: Kees Keizer/Science

Ähnlich signifikante Ergebnisse zeigten sich bei den anderen Versuchen. Beim Eingang eines Parkplatzes errichteten die Forscher einen Zaun mit einer Lücke von einem halben Meter. Darauf hängten sie ein Durchgangsverbotsschild, die Passanten mussten 200 Meter weit zum nächsten Eingang laufen. Ein zweites Schild untersagte es, Fahrräder an den Zaun zu ketten (siehe Bild oben).

Wieder gab es zwei Szenarien: Im ersten waren vier Fietse "ordnungsgemäß" im Abstand von einem Meter vom Zaun geparkt, im zweiten waren sie "ordnungswidrig" an den Zaun gekettet. Auch hier zeigte sich, dass ein Regelbruch die Wahrscheinlichkeit für einen anderen erhöhen kann.

Waren die Räder richtig abgestellt, nutzten nur 27 Prozent der Menschen die verbotene Abkürzung durch den Zaun. Waren die Räder angekettet, taten dies jedoch gleich beachtliche 82 Prozent.
Mehr Diebstähle
Bild: Kees Keizer/Science
Der einladende Brief
Doch damit nicht genug: Offenbar stimmt der Zusammenhang auch bei noch schwereren Delikten. Graffiti und Müll können laut den niederländischen Forschern nämlich auch die Bereitschaft erhöhen zu stehlen.

Aus einem Briefkasten ließen sie einen Umschlag heraushängen, in dem sich - weithin sichtbar - ein Fünf-Euro-Schein befand.

Waren Briefkasten und Umgebung sauber, wurden bloß 13 Prozent zum Stehlen animiert. Zierten hingegen Graffiti den Briefkasten, bekamen gleich 27 Prozent lange Finger. Lag Müll herum, waren es 25 Prozent.
Ausbreitung von Unordnung verhindern
Bei allen Ergebnissen zeigte sich kein Unterschied im Verhalten zwischen Männern und Frauen, betonen die niederländischen Forscher.

Ihr Schluss ist eindeutig: "Es gibt eine klare Botschaft für Politiker und die Polizei: Eine frühe Diagnose von und Intervention gegen Unordnung ist von höchster Wichtigkeit, wenn ihre Ausbreitung verhindert werden soll."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 20.11.08
->   Universität Groningen
->   Broken-Windows-Theorie (Wikipedia)
->   Philip Zimbardo
->   Nie wieder Wetterbericht (Jungle World)
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Kriminalität sinkt, aber Furcht in Bevölkerung steigt
->   Fairness contra Eigennutz
 
 
 
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01.01.2010