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Wider Stalins "starke Hand"
Kampf für Aufarbeitung des Stalin-Terrors
 
  Die Offensive gegen eine zunehmende Schönmalerei der Terrorjahre unter dem sowjetischen Diktator Josef Stalin hat in einem Moskauer Hotel am Olympiastadion begonnen. Mehr als 100 Historiker aus aller Welt, Menschenrechtler, aber auch Funktionäre und Vertreter von Staatsmedien haben sich hier in dem sozialistischen Plattenbau vor einem Logo mit Hammer, Sichel und rotem Stern in einem Saal versammelt.  
Ihr Ziel ist es, zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion erstmals eine Aufarbeitung des Stalin-Regimes auf breiter Ebene anzustoßen. "Es ist höchste Zeit, aber noch nicht zu spät", sagt die Historikerin Irina Scherbakowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial.
Geschichtsklitterung stoppen
Die Stalinismus-Forscher aus Deutschland, Frankreich, Japan und den USA wollen vor allem erreichen, dass Regierungschef Wladimir Putin und Präsident Dmitri Medwedew die Geschichtsklitterung stoppen. Denn 55 Jahre nach dem Tod Stalins wächst mit Duldung der russischen Führung dessen Popularität. Dabei loben längst nicht nur Kommunisten "die starke Hand", mit der Stalin das Land geführt habe. Auch der Staat erinnert fast ausschließlich an das Heldenhafte - und nicht an die Verbrechen.
Ein "effektiver Manager"
"Wir als professionelle Historiker müssen endlich Einfluss nehmen gegen die Umdeutung der Vergangenheit in den Geschichtsbüchern. Schließlich fängt die Prägung des Geschichtsbewusstseins in der Schule an", sagt Jelena Subkowa von der Akademie der Wissenschaften. Stalin wird in den umstrittenen Büchern zum Beispiel als "effektiver Manager" belobt.

An den drei Konferenztagen forderten die Wissenschaftler immer wieder, dass Archive vor allem beim Geheimdienst FSB und im Außenministerium wie zu Zeiten der Präsidenten Michail Gorbatschow und Boris Jelzin geöffnet werden. "Wir brauchen eine neue Archivrevolution", meint Scherbakowa.
"Unterschwellige Sabotage"
Es gebe eine "unterschwellige Sabotage" von alten Amtsträgern, die eine Aufarbeitung behinderten, sagt Scherbakowa. Dabei liege auf der Hand, dass die russischen Machthaber eine Aufarbeitung wie in Deutschland im Fall der SED-Diktatur und der Staatssicherheit der DDR blockieren wollten. Die meisten Historiker warnten allerdings vor der "großen Gefahr" eines neuen "autoritären Regimes".

Immerhin gelang es den Initiatoren, erstmals überhaupt Vertreter des Staates und der Opposition sowie der Intelligenz an einen Tisch zu holen. Als Hauptsponsor sicherte die Direktion der Jelzin-Stiftung zu, die "Destalinisierung" mit Konferenzen und Buchveröffentlichungen künftig weiter zu fördern. Hauptproblem bleibt allerdings, wie die im Grunde hinlänglich bekannten Fakten zu Stalins Verbrechen in das "gesellschaftliche Bewusstsein" übertragen werden können.
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Erschießungen und Deportationen
Im Mittelpunkt der Tagung standen die von Stalin initiierten Massenerschießungen und Deportationen sowie die große Hungersnot von 1932-1933 mit mindestens sechs Millionen Toten in der ganzen Sowjetunion. Themen waren auch Stalins Planungswahn und sein Unwille zur Korrektur. Forschungsbedarf sahen die Historiker bei den vielen persönlichen Schicksalen der Täter und Opfer. Der "Mensch der Stalinzeit" müsse besser erforscht werden.
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Warnung vor Neo-Autoritarismus
Damit die Öffentlichkeit in Russland die Brutalität der stalinistischen Verbrechen tatsächlich wahrnehme, müssten alle Ebenen zusammenarbeiten, betonte der Direktor des US-Verlags Yale University Press, Jonathan Brent. Er warnte davor, dass in Zeiten einer weltweiten Krise wie jetzt die "Anfälligkeit für autoritäre Regime" wieder zunehme.

Wie weit aber die Vergangenheitsbewältigung gehen soll, darüber gingen auch in Moskau die Meinungen auseinander. Gerichtsprozesse gegen die Täter, wie sie etwa die Ukraine plant, sind in Russland so wenig in Sicht wie ein Bekenntnis der Regierung zur Verantwortung für die Verbrechen.

Viele forderten, dass etwa Straßen mit Namen kommunistischer Helden der Stalin-Zeit umbenannt werden. In einer geplanten Resolution an die Regierung wollen die Historiker auf jeden Fall zumindest die Archivöffnung, einen "neuen Geschichtsunterricht" und die Errichtung einer nationalen Gedenkstätte einfordern.

Ulf Mauder, dpa, 9.12.08
->   Josef Stalin - Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010