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Das Gespenst des Realen kehrt zurück  
  Ohne den Anspruch, Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, geht in den Wissenschaften gar nichts. Dabei ist das, was real genannt wird, stets umstritten. Speziell in den Kulturwissenschaften herrscht eine Lesart vor, der zufolge Realität sozial oder kulturell konstruiert sei. Doch auch bei ihnen geht seit geraumer Zeit wieder das "Gespenst des Realen" um.  
Der Wirklichkeit, die nur schwer zu fassen ist, der man sich aber dennoch nicht entziehen kann, geht der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke von der Uni Konstanz anlässlich einer Tagung in Wien in einem Gastbeitrag nach.
Einbruch der Wirklichkeit in den Kulturwissenschaften
von Albrecht Koschorke

Mit dem Realen hat es in der Moderne eine merkwürdige Bewandtnis. Spontan wird man sagen: Nichts ist gegenwärtiger und unabweisbarer als das Reale. Und doch tun Dichter, Maler, Philosophen und selbst Naturwissenschaftler sich notorisch schwer damit, Auskunft darüber zu geben, wie es 'wirklich ist'.

Denn was sich sprachlich und bildnerisch zum Ausdruck bringen lässt oder was sich in wissenschaftlichen Versuchsanordnungen zeigt, ist schon nicht mehr das Reale 'als solches', sondern gleichsam gefiltert (und womöglich verfälscht) durch den Eigensinn subjektiver Erfahrung, kultureller Zeichensysteme oder technischer Apparate.
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Tagung am IFK
Vom 11. bis 12. Dezember 2008 findet am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften die Tagung "Der Einbruch des Realen" statt (Reichsratsstraße 17 1010 Wien).
->   Programm und Abstracts
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Schwer zu fassen
So suggeriert der Begriff des Realen einerseits etwas Eigentliches, Wesentliches und Grundlegendes, dessen man andererseits nur in einer entstellten und verminderten Gestalt habhaft werden kann.

'Das Reale' ist massive Präsenz, die aber nicht repräsentiert werden kann und sich in dem Maß entzieht, in dem man sie zu fixieren versucht. Es liegt geradezu in der Definition des Realen, dass es nicht von den Vorstellungen erreicht wird, die man sich von ihm macht.

Frei nach Schiller: "Spricht das Reale, so spricht, ach, das Reale nicht mehr." Oder mit den Worten des Anthropologen Marshall Sahlins: "reality is a nice place to visit (philosophically), but no one ever lived there". In der Moderne, so ließe sich resümieren, ist die wirkliche Welt epistemologisch unbewohnbar geworden.
Aber nicht totzukriegen
So paradox es klingt: Das Reale stört als exzentrische Größe die innere Stimmigkeit der Sprach- und Erkenntnissysteme, die sich um seine Bestimmung bemühen. Daher rühren auch die Versuche, es sich unter dem Stichwort der sozialen bzw. kulturellen Konstruktion der Realität gleichsam vom Leibe zu halten.

Gleichwohl ist es niemals zu bannen. Regelmäßig taucht es wieder auf, wenn die Faszinationsphase eines neuen ästhetischen oder wissenschaftlichen Paradigmas abklingt. Und so könnte man das Reale als eine Art Wiedergänger porträtieren, der jeden Tod übersteht - sei es durch den philosophischen Idealismus, der das schöpferische Ich privilegiert; den Symbolismus, der unsere Weltsicht durch die Art unserer Symbolverwendung geprägt sieht; oder den sogenannten linguistic turn des 20. Jahrhunderts, demzufolge sprachliche Zeichen die Welt nicht bloß abbilden, sondern erzeugen.

Wie ein Kobold schaut das Reale um die Ecke, sobald die Verdrängungsenergien der jeweiligen Theorie zu erlahmen beginnen. Und diese koboldhafte Wiederkehr kennzeichnet offenbar auch die aktuelle theoretische Situation.
Undarstellbarer Rest oder Störung?
Das Reale stellt in der Moderne eine Grenzfigur dar, die weder ganz innerhalb noch ganz außerhalb des kulturellen Zeichenraumes beheimatet ist. Diese Situation prägt auch die sprachlichen Bilder, in denen es zum Ausdruck gebracht wird. Die betreffenden Metaphern lassen sich grob in zwei Sorten einteilen.

Defensiv: Das Reale bildet einen unauflöslichen Rest jeder begrifflichen Ordnung; es ist undarstellbar, unsagbar, nicht fixierbar; es entzieht sich oder bildet lediglich eine Differenz oder Spur; es widersteht.

Aggressiv: Das Reale macht als Störung, Zusammenbruch, Katastrophe auf sich aufmerksam. In diesem Fall spricht man - und das gibt der Tagung ihr Motto - vom Einbruch des Realen. Aber die Frage ist dann: Von wo 'bricht es ein'? Und in was?
Nähe zur Theologie
Das ganze Rätsel rührt also daher, dass das Reale gleichzeitig zwei miteinander unvereinbare Positionen einnimmt. Es ist sowohl Entstehungsgrund als auch Fremdkörper der kulturellen Bedeutungsproduktion.

Damit gerät der Diskurs über das Reale einerseits in eine merkwürdige Nähe zur Tradition der negativen Theologie, die alle Dinge von Gott her denkt, aber es verbietet, Gott selbst positive Eigenschaften zuzuschreiben. Andererseits lässt seine Ungreifbarkeit hinter der Kulisse der Phänomene es als ein gespenstisches Wesen erscheinen. Wobei jedoch beide Seiten, das Göttliche und das Gespenstische, nicht voneinander zu trennen sind.

Und so kann man geradezu von einer Hassliebe sprechen, die die Kultur der Moderne dem Realen entgegenbringt. Ziel der Tagung ist es, das Feld dieser merkwürdigen Hassliebe auszumessen.

[11.12.08]
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Albrecht Koschorke ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaften an der Universität Konstenz. Er studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaft und Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und in Paris. Nach seiner Promotion 1989 war er von 1991-93 Assistent an der Universität Würzburg und von 1994-97 an der Freien Universität Berlin, wo er sich 1997 habilitierte.
->   Albrecht Koschorke, Uni Konstanz
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->   Realität (Wikipedia)
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Quantenphysiker stellen "Realität" in Frage
->   Sprache kreiert soziale Realität
 
 
 
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01.01.2010