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Der Rechtsstaat ist gar nicht "in Gefahr"  
  Der neu gewählte US-Präsident Barack Obama will Guantanamo schließen. Für viele gilt das Gefangenenlager auf Kuba als "bestes Beispiel", wie im Anti-Terror-Kampf demokratische Grundrechte abgeschafft werden. Der Rechtsstaat werde nach und nach auf dem Altar vermeintlicher Sicherheit geopfert, lautet die Kritik. Detlef Georgia Schulze, PolitikwissenschaftlerIn von der Freien Uni Berlin und derzeit am IFK in Wien, sieht das anders.  
Wenn man Recht und Gesetz so scharf trennt wie im deutschen Diskurs, sei der Weg zu einem Ausnahmezustand jenseits der Gesetze immer möglich. Anders als speziell Linke und Liberale glauben, schütze und legitimiere der Rechtsstaat den Staat, meint Schulze anlässlich eines Vortrags in einem science.ORF.at-Interview.

Er beruft sich auch auf einen Staatstheoretiker mit Bezug zu Österreich: Adam Müller, der ein Berater von Metternich war, hat vor knapp 200 Jahren den Begriff des Rechtsstaats geprägt.
science.ORF.at: Für viele ist Guantanamo das Symbol für den Bruch des Rechtsstaats - warum nicht auch für Sie?

Detlef Georgia Schulze: Ich denke Guantanamo ist in gewisser Weise die Realisierung des Rechtsstaatsprinzips, zumindest so wie es in Deutschland verstanden wird. Der deutsche Diskurs beruht auf einem starken Gegensatz von Recht und Gesetz, was bedeutet, dass es ein Recht gibt, das über den Gesetzen steht und im Zweifelsfall auch Sonderkompetenzen der Regierung legitimieren kann.

Wir hatten das in Deutschland 1977 im sogenannten deutschen Herbst, als illegale Abhörmaßnahmen von den Anwälten der RAF-Mitglieder in Stammheim als übergesetzlicher Notstand legitimiert worden sind. Da hat man sich auf ein Staatsrecht berufen, um Sachen zu machen, die "formal" - wie es oft abschätzig heißt - nicht in Ordnung sind. Ich denke, dass diese Argumentation auch Guantanamo stützt.
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Vortrag am IFK
Detlef Georgia Schulze hält am 15. Dezember 2008 um 18 Uhr c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften den Vortrag "Ist der Rechtsstaat in Gefahr?".
Ort: Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag (IFK)
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Ist das der in den vergangenen Jahren vielzitierte Ausnahmezustand, der den Rechtsstaat oder Staaten an sich erst definiert?

Tendenziell ja. Zwar nicht für alle Bürger, aber für bestimmte Gruppen von Feinden ist das ein Ausnahmezustand. Dazu passt ein Zitat des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld. Als er bei einer Pressekonferenz gefragt wurde, was mit den ganzen juristischen Bedenken gegenüber Guantanamo sei, hat er geantwortet: "I dropped out from law school" - er mache jetzt die Sachen, die praktisch notwendig sind.

Da sieht man allerdings auch einen Unterschied zu Deutschland. Rumsfeld verweist auf praktische Notwendigkeit, es gibt aber keine moralisierende Überhöhung - das Recht - wie in Deutschland. In beiden Ländern sind eine Abweichung von geschriebenen parlamentarischen Gesetzen und eine Anmaßung von Sonderkompetenzen der Exekutive festzustellen. Aber ob es nicht doch einen Unterschied in der Argumentationsweise zwischen dem deutschem Idealismus und dem amerikanischen Pragmatismus gibt, das möchte ich noch weiter untersuchen.
In Ihren Studien sind Sie auf einen relativ unbekannten Juristen gestoßen, der das Wort "Rechtsstaat" geprägt hat und der auch einen Bezug zu Österreich hat: Adam Müller.

Ja, Müller war ein in Berlin geborener Staatstheoretiker, der später auch im Dienst von Metternich am Hof in Wien stand. 1809 hat er erstmals vom "Rechtsstaat" geschrieben. Wir könnten nächstes Jahr also eigentlich einen runden Geburtstag feiern - was aber wohl nicht geschehen wird. Gemeinhin gelten Carl Theodor Welcker und Karl von Rotteck, die ab 1813 und 1824 vom "Rechtsstaat" sprachen, - und noch später Robert Mohl - als die Begründer des Begriffs im eigentlichen Sinne. Fragt sich nur, ob der "eigentliche Sinn" und Müllers Sinn wirklich so verschieden sind.
Wie modern liest sich Müller in der Gegenwart?

Vieles von dem, was im Rechtsstaatsdiskurs heute in Deutschland gedacht wird, ist bei ihm schon angelegt: Sein romantisches Ganzheitspathos funktioniert heute zwar nicht mehr so ganz, aber es gibt auch bei ihm schon eine Polemik gegen den "toten Buchstaben des Gesetzes", was sich einordnet in eine heutige Polemik gegen die "Gesetzesflut, Überbürokratisierung, man muss das alles flexibler machen etc.".
Wie hat Müller den Rechtsstaat definiert?

Als das, was dem Staat "Dauer und wahre Haltung" gibt - und zwar durch die Rechtsidee. Und die Rechtsidee war für ihn eine Art Kompromiss zwischen dem geschriebenen Gesetz und dem souveränen Willen des - damaligen - Monarchen. Müllers Text kennt keine Ständeversammlung oder Parlament, das diese Gesetze macht. Das Gesetz ist bei ihm ein philosophisches Naturrecht von Ewigkeit.

Und weil Staatspraxis nicht mit Ewigkeit funktioniert, und Müller demokratische Gesetzgebung nicht denken kann oder will, ist es der souveräne Akt des Monarchen, der das ewige Naturrecht so zurechtbiegt, dass es jeweils dem Staat "Dauer und wahre Haltung" gibt. Müller liefert einen frühen Beleg, dass der Rechtsstaat den Staat legitimiert. Er ermöglicht der Exekutive zu sagen: "Schön, es gibt das Gesetz. Es gibt aber auch ein Recht, das man praktisch handhaben muss, und man darf nicht so streng formalistisch sein."
200 Jahre später: Was hat sich verändert?

Das Naturrecht ist offensichtlich weggefallen. Aber wir haben weiter die Vorbehalte gegenüber dem geschriebenen Gesetz und ähnliche Metaphern, die das beschreiben: etwa Starre und Flexibilität.

Das deutsche Verfassungsgericht hat schon 1973 ganz klar gesagt: Die Aufgabe der Rechtssprechung ist es nicht nur, die einzelnen Rechtssätze in der Verfassung zu erkennen, sondern es gebe auch Leitideen, die sich da ausgedrückt haben, und die das Verfassungsgericht "in einem Akt bewertendem Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht bringt", wie es wörtlich heißt.

Das Verfassungsgericht ist so der ungekrönte Souverän, der den toten Buchstaben des Gesetzes Leben einhaucht und damit nicht die Bürger und Bürgerinnen schützt, sondern den Staat legitimiert.
Ein Beispiel dafür?

Es gab vor einiger Zeit eine Debatte, ob entführte Zivilflugzeuge abgeschossen werden dürfen, wenn sie als Waffen benutzt werden. Dazu gab es eine gesetzliche Regelung der damaligen rotgrünen Koalition, gegen die vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt wurde. Das Gesetz wurde als verfassungswidrig erklärt, weshalb das Gericht von vielen linksliberalen Juristen gefeiert wurde.

Man sollte sich aber nicht nur das Ergebnis ansehen, sondern die gesamte Argumentation. Das eine Argument war: Man muss unterscheiden zwischen der verfassungsrechtlichen und der strafrechtlichen Frage. Ein Abschuss könne zwar verfassungsrechtlich illegal sein, aber dennoch sei es möglich, dass weder der Soldat, der das Flugzeug abschießt, noch der Minister, der das anordnet, dafür bestraft wird. Hier haben wir wieder die Figur des übergesetzlichen Notstands, wie schon bei der RAF.

Das zweite Argument: Das Gesetz sei nur deshalb verfassungswidrig, weil die rotgrüne Regierung versucht hat, es in jene Notstandsvorschriften einzubauen, die sich mit Naturkatastrophen etc. beschäftigen. Und das ist den Richtern zu wenig schwerwiegend erschienen. Wenn ein Angriff hingegen die Existenz des Staates bedrohe, könnte dies ein Sondernotstand sein, der über die im Grundgesetz beschriebenen Notstandsfälle hinausgeht - und den Abschuss ermöglichen, ohne ein neues Gesetz zu beschließen oder gar die Verfassung ändern zu müssen.

Das hat das Verfassungsgericht in seinem vermeintlich liberalen Urteil zwar nicht abschließend so entschieden, aber damit eine Argumentation entwickelt, die Verteidigungsminister Jung nur noch aufgreifen musste. Er hat das Urteil genau gelesen; der Aufschrei gegen ihn erfolgte zu Unrecht. Er müßte sich gegen "Karlsruhe" richten.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 15.12.08
->   Adam Müller (Wikipedia)
->   Detlef Georgia Schulze, IFK
 
 
 
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01.01.2010