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Kolonialismus und europäisches Selbstverständnis
Eine differenzierte und ambivalente Sichtweise
 
  Mit "Kolonialismus" verbindet man Fremdbestimmung, Unterdrückung, Gewaltherrschaft, wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Ignoranz. Es waren vornehmlich europäische Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien oder Belgien, die für den Kolonialismus verantwortlich waren.  
"Kolonialismus und europäisches Selbstverständnis" war das Thema eines Kongresses, der vor kurzem im Deutsch Italienischen Zentrum der Villa Vigoni am Comosee veranstaltet wurde.

Zahlreiche Experten zeichneten dabei ein differenziertes und zum Teil auch ambivalentes Bild des Kolonialismus.
Verschiedene Formen des Kolonialismus
Koloniale Herrschaft von europäischen Staaten war ein wesentliches Merkmal der Weltgeschichte zwischen 1500 und 1900. Vom europäischen Kolonialismus waren zahlreiche Länder Afrikas, Asiens, Ozeaniens und Südamerika betroffen.

Dabei zeigte sich der Kolonialismus in verschiedenen Ausprägungen. Jürgen Osterhammel, Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Konstanz, spricht in seinem Standardwerk über den Kolonialismus von "einem Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit".
Herrschaftsanspruch des Kolonialismus
Für Osterhammel ist der Kolonialismus ein Herrschaftsverhältnis, das sich durch einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den Kolonialherrn und den Kolonisierten auszeichnet.
Typisch für das Überlegenheitsgefühl der Kolonialherren ist "der Unwille der Herrn, den unterworfenen Gesellschaften entgegenzukommen".

Der in Wien lehrende Wirtschaftshistoriker Peer Vries, der Organisator des Kongresses, spricht vom Drang des Kolonialismus, im Namen der Zivilisation andere Kulturen zu unterwerfen.

Der jeweilige koloniale Staat hatte zwei Ziele: die Sicherung der Kontrolle über die unterworfenen Völker und die Schaffung von Rahmenbedingungen für die ökonomische Ausbeutung der Kolonien.
Ausbeutung in Indien
Dietmar Rothermund, emeritierter Professor für die Geschichte Südasiens an der Universität Heidelberg, zeigte am Beispiel Indien, wie diese ökonomische Ausbeutung funktionierte. Hier fungierte nicht direkt der britische Staat als kolonialistische Macht, sondern die 1600 gegründete Britische Ostindien-Kompanie.

Im Gegensatz zur spanischen Kolonialpolitik, die hauptsächlich nach Gold und Sachwerten strebte, suchte die Britische Ostindien Kompanie große Handelsgewinne zu erwirtschaften.
Rücksichtslose Steuereintreibung
Von den indischen Herrschern lernte die Kompanie rasch, wie man ein möglichst effizientes System entwickeln konnte, um möglichst viele Steuereinnahmen zu erhalten. Die Grundlage dafür war die Grundsteuer, die rücksichtslos eingetrieben wurde. Konnte die Steuer nicht bezahlt werden, wurden Häuser und Grundstücke konfisziert; die Betroffenen wurden obdachlos.

Das britische Parlament beschloss, dass die Kompanie die Einnahmen behalten durfte. Der Grund lag in der Furcht der Parlamentarier, der König könnte das Vermögen erhalten, was zu einer Schwächung des Parlaments geführt hätte.
Britisches Rechtssystem ermöglicht spätere Emanzipation
Ein positiver Aspekt des britischen Kolonialismus - so Rothermund - bestand in der Einführung des britischen Bildungssystems. So wurden zahlreiche Rechtsanwälte nach den Maßstäben des britischen Rechtssystems ausgebildet. Sie lernten auch die Schriften der Klassiker wie John Stuart Mills Schrift "Über die Freiheit" kennen.

Dies erwies sich später als Bumerang, weil diese Rechtsanwälte die in den Schriften proklamierten Rechtsideale mit der Praxis in Indien verglichen und über die Ungerechtigkeit empört waren. So ist es erklärbar, dass führende Gestalten des indischen Nationalismus wie Nehru oder Gandhi Rechtsanwälte waren.
Die "böse Seite" des Kolonialismus
Winfried Speitkamp, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Gießen wies auf die "böse Seite" des Kolonialismus hin: Die brutale Gewalt gegen die Zivilbevölkerung war in vielen Staaten wie in Algerien, im Kongo oder in Südamerika ein Mittel, um die Menschen einzuschüchtern.

Dazu kam noch die Mentalität des "Herrenmenschen", die Frantz Fanon, der radikale Theoretiker der Befreiung vom Kolonialismus so formulierte: "Der schwarze Mensch erscheint dem Weißen als minderwertig; umgekehrt ist der Weiße davon überzeugt, dass seine Errungenschaften wie Zivilisation oder Kultur nachahmenswert sind."
"Die Verdammten dieser Erde"
Es war dann auch das Buch "Die Verdammten dieser Erde" von Frantz Fanon, das großes Aufsehen erregte. In dem 1961 publizierten Manifest des Antikolonialismus rief Fanon dazu auf, gegen die koloniale Gewalt eine Gegengewalt zu setzen. Durch diese Gewalt sollte der Kolonialisierte wieder zum Menschen werden, Geist und Körper emanzipieren und sich von Unterdrückung und Unterordnung befreien.

Eine besondere Provokation war ein Satz von Jean-Paul Sartre, der im Vorwort schrieb: "Einen Europäer erschlagen, heißt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen: Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch".
Differenzierte Sichtweise des Kolonialismus
Andreas Eckert, Professor für Afrikanische Geschichte an der Humboldt Universität in Berlin, nennt diesen Satz von Sartre "gewaltbesoffen". Er bezweifelt auch, dass Fanons Analyse der kolonialen Welt als zweigeteilte Welt Gültigkeit beanspruchen kann.

Er spricht sich auch dafür aus, den brutalen Kolonialismus, wie er in Algerien oder Kenia stattfand, nicht mit anderen Formen des Kolonialismus gleichzusetzen. Manchmal eröffnete der Kolonialismus auch die Chance, sich aus oft rigiden Stammestraditionen zu befreien. So boten Handelsgesellschaften oder Missionare die Möglichkeit, sich eine Schulbildung anzueignen oder sich politisch zu emanzipieren.

Eckert spricht nicht blauäugig über diese Thematik, sondern aus einer Vertrautheit mit dem Thema, die er sich während seines Studiums in Yaounde/Kamerun angeeignet hat.
Massenkonsum prägender als Kolonialismus
In seinem Buch "Kolonialismus" kommt Jürgen Osterhammel nach eingehenden Analysen zu dem Schluss, "dass die weltweite Ausbreitung von Massenmedien und westlichen Konsumangeboten in den letzten Jahrzehnten außereuropäische Zivilisationen stärker verändert hat als Jahrhunderte kolonialer Prägung".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 26.12.08
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Literaturhinweise
Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, C.H.Beck Verlag
Dietmar Rothermund: Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C.H. Beck
Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp taschenbuch 668
Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Porträt. Edition Nautilus
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01.01.2010