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Post-fossile Gesellschaft braucht Revolution  
  Nicht erst die Globalisierung, sondern schon die Entwicklung des Kapitalismus stützte sich auf die Zufuhr großer Mengen fossiler Energieträger. Wenn nun nach alternativen Energieträgern gerufen wird, führt dies in unserer Welt des Wirtschaftswachstums zu neuen Problemen. Laut dem Berliner Ökonomen Elmar Altvater lässt sich eine post-fossile Gesellschaft nur erreichen, wenn bestehende Strukturen geändert werden. Eine Revolution sei notwendig - ähnlich, wie es sie Ende des 18. Jahrhunderts vor Beginn des Industriezeitalters gegeben hat.  
Energie und Energiesystem in der Epoche der Globalisierung
Von Elmar Altvater

Wenn Karl Marx sein 1867 veröffentlichtes Hauptwerk "Das Kapital" heute nochmals schreiben würde, hätte er den berühmten ersten Satz möglicherweise leicht modifiziert: "Der Reichtum der Nationen, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung - vor allem als ungeheure Zahl von Automobilen."

Er könnte vom einzelnen Automobil ausgehen, um die Art und Weise des Produzierens und Konsumierens, des Denkens und Kommunizierens, des Umgangs mit der Natur zu entschlüsseln. Das Auto beherrscht unser Leben; wir haben die Städte autogerecht gebaut, Autopisten verwandeln Landschaften in Rollbahnen der kapitalistischen Zivilisation.

Mit dem Auto sind wir in der Lage, die Zeit zwischen den Orten von Arbeit, Freizeit, Erziehung der Kinder und Pflege der Eltern, von gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten, von Einkaufen und Ferien enorm abzukürzen. Die Atmosphäre der Erde ist bei dieser Verdichtung von Zeiten und Räumen durch das automobile Gesellschaftssystem zur gigantischen Deponie für Abgase zweckentfremdet worden.
Mit Dampfschiff und Flugzeug zum Weltmarkt
Die Schaffung des Weltmarkts ist im Begriff des Kapitals angelegt, schrieb Marx schon 1857 ahnungsvoll. Für die Umsetzung des Begriffs in die Wirklichkeit sorgten zu seiner Zeit Dampfschiff und Telegraph, Schienenwege und Schifffahrtskanäle und die Vielfalt der Werkzeugmaschinen, mit denen auch das Tempo der Produktion und folglich die Produktivität der Arbeit im Wettbewerb der Standorte enorm gesteigert werden konnten.

Heute haben wir obendrein das Flugzeug und den Hochgeschwindigkeitszug für den superschnellen Transport und das Internet für die interkontinentale Kommunikation. Das sind Anlagesphären des Kapitals, goldene Gelegenheiten für massive Investitionen und schöne Profite. So sind jeweils lange Aufschwünge und Phasen der Prosperität in der Geschichte des Kapitalismus begründet worden.
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Schwerpunkt Energiegesellschaft
Die Initiative Risiko:dialog von Radio Österreich 1 und dem Umweltbundesamt widmet sich derzeit dem Thema Ressourcen. Bis März 2009 gibt es den Dialogschwerpunkt Energiegesellschaft, im Frühjahr 2009 eine BürgerInnenkonferenz. Im Zuge des Schwerpunkts erscheinen in science.ORF.at zirka alle zwei Wochen Beiträge zum Thema Energie.
->   Risiko:dialog
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Zwei Revolutionen: Industriell und fossil
Doch wäre die Beschleunigung in der Zeit ebenso wenig möglich gewesen wie die Expansion im Raum, hätte man nicht die Wasser- und Windkraft und die biotischen Energien von Pflanzen und Tieren durch die fossilen Energieträger fast vollständig ersetzen können. Der Kapitalismus, der in Europa schon im 13. Jahrhundert seinen Ursprung hat, gewinnt durch die industrielle und fossile Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts richtig Fahrt.

Die wirtschaftlichen Wachstumsraten verzehnfachen sich von etwa 0,2 Prozent pro Jahr in den Jahrtausenden seit Christi Geburt auf durchschnittliche 2,2 Prozent in den zwei Jahrhunderten nach der industriellen Revolution. Das scheint nicht viel zu sein, insbesondere wenn uns die Traumrenditen von 20 bis 30 Prozent in der goldenen Zeit vor der großen Finanzkrise in den Ohren klingeln; doch 2,2 Prozent pro Jahr bedeutet eine Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens etwa alle 35 Jahre. Jede Generation in den vergangenen 200 Jahren ist trotz Kriegen und Krisen doppelt so reich wie die vorangegangene. So etwas hat es in der ganzen Menschheitsgeschichte nicht gegeben.
Bäume wachsen nicht in den Himmel
Kein Wunder, dass alles versucht wird, diese trotz aller Ungleichheit, Krisen und Zerstörungen herrlichen Zeiten des "triumphalen Wachstums" (so der US-amerikanische Ökonom Richard Easterlin) möglichst weit in die Zukunft zu verlängern. Dieser Herausforderung nehmen sich zu allererst die Ökonomen an.

Die Ökonomie wird seitdem, wie der Historiker Eric Hobsbawm schreibt, zur Leitwissenschaft, und ihre Repräsentanten orakeln vor andächtigem Publikum wie Hohepriester über Wachstum in alle Ewigkeit, auch wenn jeder normal denkende Mensch weiß, dass auf Erden die Bäume nicht in den Himmel wachsen und der individuelle Lebenszyklus Geburt, Wachstum, Erwachsensein, Alterung und Tod umschließt, dass die ewige Jugend ein sehnsuchtsvoller Wunschtraum in einer Märchenwelt und der Jungbrunnen, durch den der Alterungsprozess umgekehrt werden könnte, trocken ist.
Energie als Basis des Wirtschaftswachstums
Auch die politisch Verantwortlichen in nationalen Regierungen und internationalen Organisationen setzen auf Wachstum, weil damit Zuversicht aufkommt und es so scheint, als ob fast alle Probleme durch wirtschaftliches Wachstum bewältigt werden könnten: die Arbeitslosigkeit und die Fiskalkrise der Staaten, Armut und Hunger in der Welt, der drohende Klimakollaps und nicht zuletzt die verheerende Finanzkrise unserer Tage. Für internationale Vergleiche der Qualität des Regierungshandelns wird die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts herangezogen: je höher, desto besser, gleichgültig was das Wachstum an Umweltbelastungen und sozialen Verwerfungen in der Gesellschaft kostet.

Die ökonomische Dynamik hoher Wachstumsraten verlangt eine gesicherte Energiezufuhr. Bis 2030 wird diese zu 80 Prozent aus den Lagern fossiler Energieträger stammen, wie die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt. Die sind bekanntlich begrenzt, und je höher das Wachstum und je mehr Länder der kapitalistischen Wachstumsdynamik Folge leisten, desto schneller werden die fossilen Energiebestände erschöpft sein.

Als kritische Geologen schon vor geraumer Zeit verkündeten, der Höhepunkt der Ölförderung (Peakoil) sei erreicht und danach gehe die Versorgung bergab, schlug ihnen Spott und Aggression entgegen. Inzwischen warnt die IEA vor Engpässen der fossilen Energieversorgung. Denn alternative Energien stehen derzeit nur unzureichend zur Verfügung.
Produktions- und Konsummuster als Problem
Die IEA trägt inzwischen auch den Klimaeffekten der Verbrennung fossiler Energieträger Rechnung. Die absurde Arbeitsteilung zwischen Klimapolitikern, die mit den "flexiblen Mechanismen" des Kyoto-Protokolls den Ausstoß von Treibhausgasen begrenzen wollen, und Energiepolitikern, die möglichst hohe Steigerungsraten des Energieangebots anstreben, ist einer gewissen ernüchternden Vernunft gewichen. Auch die IEA beteuert die Notwendigkeit, die Verbrennung fossiler Energien zu vermindern, um die Aufheizung der Erdatmosphäre zu stoppen.

Die Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte wird also in der näheren Zukunft nur mit anderen Treibstoffen als den fossilen fortgesetzt werden können. Dabei tauchen sofort gravierende Probleme auf. Wenn Treibstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen (Agrosprit) die aus dem fossilen Zeitalter stammenden Produktions- und Konsummuster bedienen, kommt es zur Konkurrenz mit der Produktion von Nahrungsmitteln für Menschen. Vor dem Konflikt zwischen "food or fuel" warnt sogar die OECD, die Organisation der Industrieländer.
Mit dem Arzt gegen die Revolution
Wenn wir über post-fossile und post-industrielle Zeiten reden, müssen wir uns daran erinnern, dass das Industriezeitalter einer technischen, ökonomischen, sozialen und politischen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts folgte. Auch ein post-fossiles Zeitalter auf der Basis von solarer Energie verlangt eine Revolution.

Politische Realisten neigen dazu, wenn von Revolution die Rede ist, nach dem Arzt zu rufen. Heute wirbt das "forum Nachhaltig Wirtschaften" mit dem Slogan "Solutions now instead of utopias tomorrow" (Werbeanzeige in "Le Monde Diplomatique", September 2008). Bloß nicht die vorherrschenden Strukturen in Frage stellen, denn die benötigt man für das Machbare.

Doch wenn wir ernsthaft die fossile Abhängigkeit loswerden wollen, müssen wir gerade diese Strukturen verändern. Die Utopien von morgen sind daher realitätstüchtiger als die "solutions now". Das Machbare reicht nicht, um das Notwendige zu gestalten.

[7.1.09]
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Über den Autor
Der Ökonom und Soziologe Elmar Altvater ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU-Berlin. In seinen Büchern befasst er sich mit Globalisierung und Kapitalismuskritik ("Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft", "Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik"). Er ist Mitbegründer der Zeitschrift "PROKLA - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft" und war Mitglied der Enquete-Kommission "Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten" des Deutschen Bundestages.
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01.01.2010