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Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
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Was die Wissenschaften erschüttern wird
Optimistische und pessimistische Szenarien
 
  Welche bahnbrechenden Erfindungen und Entwicklungen erwarten Wissenschaftler im Laufe ihres Lebens? Diese Frage hat der New Yorker Literaturagent John Brockman über 150 namhaften Persönlichkeiten zum Jahreswechsel gestellt. Bei den Antworten halten sich Optimisten und Pessimisten mehr oder weniger die Waage.  
Von der Konstruktion virtueller Identitäten und der direkten Telepathie zwischen zwei Gehirnen über erste Ansätze zur Überwindung des Todes bis zu universell verfügbaren Dolmetsch-Maschinen reichen die Hoffnungen der Optimisten.

Die Pessimisten glauben entweder an überhaupt keine Änderungen, sehen sich in der Ewigkeit der menschlichen Natur verfangen oder befürchten die Konsequenzen atomarer Explosionen - wie etwa Österreichs Quantenphysiker Anton Zeilinger, der daraufhin den Zusammenbrauch sämtlicher Computer prognostiziert.
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Zukunftsfragen seit zwölf Jahren
Bereits zum zwölften Mal hat der New Yorker Literaturagent John Brockman namhaften Wissenschaftlern zum Jahreswechsel knifflige Fragen gestellt. Anfang 2009 lautet sie "Was wird alles ändern? Welche wissenschaftlichen Ideen und Entwicklungen, die unsere Welt grundlegend ändern, erwarten Sie noch während Ihres Lebens?". Antworten gaben über 150 - vor allem männliche - Wissenschaftler, Forscher und Intellektuelle.
->   Die aktuelle Frage
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Schimpanse plus Mensch ergibt Australopithecus
Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins wird in seiner Antwort seinem Ruf gerecht und provoziert mit Gedanken zum Durchbruch der Artengrenzen, und zwar jener zwischen Menschen und Schimpansen. "Auch wenn der Hybrid unfruchtbar wäre wie ein Maulesel, wären die Schockwellen heilsam, die danach durch die Gesellschaft gehen würden."

Eines von vier Szenarien, die Dawkins beschreibt, sieht die Rekonstruktion der gemeinsamen Vorfahren von Affe und Mensch vor. Würde die entsprechende DNA in einen menschlichen Embryonen eingesetzt werden, könnte daraus immerhin ein Australopithecus entstehen: "Lucy, die zweite", wie Dawkins sie gleich liebevoll nennt.

Für alle, die jetzt gleich rot sehen: "Ich habe nur vier Möglichkeiten beschrieben, die im Falle ihrer Realisierung alles ändern würden. Und nicht, dass ich das hoffen würde. Aber ich gebe zu, dass ich es prickelnd finde, über etwas bisher Unhinterfragtes nachdenken zu müssen."
->   Richard Dawkins: Breaking the species barrier
Intelligenz jenseits des Menschen
Der Medientheoretiker Douglas Rushkoff zeigt sich besonders von der Vorstellung angetan, intelligentes Leben jenseits des Menschen aufzufinden. Und er hält dies für sehr wahrscheinlich. Gleichgültig ob es sich dabei um "einen Außerirdischen, einen Gott, einen Geist, eine unabhängig von uns entwickelte Lebensform oder eine von uns geschaffene Intelligenz" handelt, würde dies das Verständnis von uns selbst fundamental ändern.

Der Wissenschaftshistoriker Georgy Dyson glaubt, dass es am ehesten digitale Lebensformen sein könnten, die von Planet zu Planet springen, quasi wie "interstellare Viren". Und er erzählt dazu eine Anekdote mit Edward Teller, dem Vater der Wasserstoffbombe.
->   Douglas Rushkoff: The discovery of intelligent life from somewhere else
->   George Dyson: Interstellar Viruses
Überwindung des Todes
Der Naturphilosoph Marcelo Gleiser denkt über die existenzielle Frage des Menschen schlechthin nach: über den Tod und über die Versprechungen der Naturwissenschaften diesen zu beherrschen.

In einer Kombination von Klontechnik und Speicherung individueller Gedächtnisinhalte in riesigen Datenbanken könnte es eines Tages gelingen, eine Art von Unsterblichkeit zu erlangen, wie zumindest einige seiner Kollegen meinen.

"Obwohl ich prinzipiell optimistisch bin, bezweifle ich das. In jedem Fall wäre die Kontrolle über den Tod das, was alles andere ändert. Bis dahin halte ich mich an Mary Shelley's Frankenstein. Vielleicht gibt es ein paar Dinge, auf die wir wirklich nicht vorbereitet sind."
->   Marcelo Gleiser: Mastering Death
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John Brockman
John Brockman hat in seinem 1995 erschienenen Buch "Die Dritte Kultur" einen Ausdruck von C.P. Snow aus den 1950er Jahren übernommen und popularisiert, der eine Synthese von der "ersten Kultur" der Geisteswissenschaft und einer "zweiten" der Naturwissenschaft propagierte. Seit 1998 stellt er auf seiner Homepage "Edge" Weggenossen seine Zukunftsfragen.
->   Die Dritte Kultur (Edge)
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Maschinen gegen babylonische Sprachverwirrung
Nicht über die Erlösung vom Tod, aber über die Überwindung einer anderen Strafe biblischer Herkunft sinniert der Linguist Daniel Everrett. Im Alten Testament bestrafte Gott die Menschen mit einer Vielzahl an Sprachen, nachdem sie ihn mit ihrem Turmbau von Babel vermessenerweise erreichen wollten.

Das seither bestehende babylonische Sprachgewirr könnte bald ein Ende haben: Automatisierte und nahezu universelle Dolmetschmaschinen kommen, zeigt sich Everrett überzeugt. Und diese seien ein erster Schritt zur Wiedererlangung von Kooperation und Vertrauen zwischen den Völkern.
->   Daniel Everrett: Undoing Babylon
Virtuelle Selbste und Radiotelepathie
Für zahlreiche Denker liegen die größten Versprechungen der Zukunft in der Gehirnforschung. Der deutsche Neurophilosoph Thomas Metzinger etwa schwärmt von der Kontrolle verschiedener virtueller "Selbste" durch das eigene Gehirn.

Von den ersten Experimenten dieser Art virtueller Realität, an denen er selbst beteiligt war, berichtet er ebenso begeistert wie vom Horizont des Möglichen: Auf diesem tauchen Avatare auf, die die Kontrolle im Prozess zwischen virtueller und biologischer - sprich menschlicher - Intelligenz übernehmen. "Ich glaube zwar nicht, dass das alles verändern würde. Aber eine ganze Menge", schreibt Metzinger.

Der Physiker Freeman Dyson träumt von der ultimativen Verbindung von menschlicher Empathie und Gehirnforschung. Seiner Ansicht nach werden Werkzeuge entwickelt, die die elektrischen Impulse im Gehirn direkt in andere Gehirne übertragbar machen. "Radiothelepathie" nennt er das, und mit ihr sei "die direkte Kommunikation von Gefühlen und Gedanken von Hirn zu Hirn" möglich. Eine prosaische Variante des alten Mythos der Telepathie, wie Dyson selbst zugibt.
->   Thomas Metzinger: Soul-travel für selfless beeings
->   Freeman Dyson: Radiotelepathy
Atomexplosion, die alle Computer schachmatt setzt
Weniger optimistisch zeigt sich Österreichs alljährlicher Beitrag zur Umfrage. Für den Quantenphysiker Anton Zeilinger wird "der Zusammenbruch von allen Computern alles ändern".

Auslöser dieser apokalyptischen Vision werde ein elektromagnetischer Puls (EMP) sein, der wiederum von einer nuklearen Explosion außerhalb der Erdatmosphäre verursacht wird. "Wo das geschehen wird, ist nicht vorauszusagen. Es wird aber geschehen, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass alle Atomwaffen wieder verschwinden", schreibt Zeilinger.

Physikerkollege Lawrence Krauss sieht das Szenario ein wenig Konkreter: "Wenn ich nur ein einzelnes Ereignis nennen darf, das alles ändern wird, muss ich von den faszinierenden wissenschaftlichen Entwicklungen absehen, die ich erwarte, und etwas nennen, das ich leider ebenfalls erwarte: den Einsatz von Nuklearwaffen gegen die Zivilbevölkerung."
->   Anton Zeilinger: Breakdown of all computers
->   Lawrence Krauss: The use of nuclear weapons against a civilian population
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Behandlung von Erbkrankheiten
Der Reproduktionsbiologe und Schöpfer des ersten Klonschafs "Dolly", Ian Wilmut, erwartet noch zu seiner Lebenszeit "wirksame Behandlungsmethoden gegen einige der vielen hundert Erbkrankheiten", die durch die moderne Biomedizin entwickelt werden.
->   Ian Wilmut: The next step in human healthcare?
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Alles wird immer schlechter - oder nicht?
Brian Eno, Musikproduzent und Künstler, sieht gleich den Optimismus (s)einer ganzen 1968er-Generation den Bach runtergehen. "Damals überwog das Gefühl, dass die Erde ein besserer Ort werden könnte, und wir durch unser Leben dazu beitragen können." Dies habe sich mittlerweile geändert. Persönlich beschleicht ihn deshalb nunmehr das "Gefühl, dass die Dinge unvermeidlich immer schlechter werden".

Und wem das zu negativ erscheint: Einige der Befragten glauben weder an Fortschritt noch Rückschritt. Da nämlich der Glaube, dass "etwas alles ändert", wahre Änderung verhindere, wie es der Theaterdirektor Richard Foreman ausdrückt.

Oder aber auch weil sich einige Dinge niemals ändern werden: die Zutaten der menschlichen Biographien etwa wie Liebe, Hass, Politik und Religion. Der britische Psychologe Nicholas Humphrey zitiert dazu den antiken Dichter Horaz: "Man kann die Natur mit der Mistgabel vertreiben, sie wird immer wieder zurückkommen."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 12.1.09
->   Brian Eno: The feeling that things are inevitably going to get worse
->   Nicholas Humphrey: Why human nature will rebel
Mehr zu den Zukunftsfragen von John Brockman:
->   Wenn Wissenschaftler ihre Meinung ändern (9.1.08)
->   Was Wissenschaftler optimistisch macht (5.1.07)
->   Wer drückt der Wissenschaft seinen Stempel auf? (13.1.04)
->   Die "wichtigsten Zukunftsfragen der Wissenschaft" (20.1.03)
 
 
 
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01.01.2010