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Trauer ist gut, nur nicht auf Dauer  
  Die Wintertage sind kurz, kalt und dunkel. Die Wirtschaftkrise macht allen Angst und private Sorgen rauben einem die Nerven - Gründe, deprimiert zu sein, gibt es meist genug. Glücklich und ausgeglichen zu bleiben fällt hingegen schwer. Nicht wenige bekämpfen unwillkommene Stimmungsschwankungen heute daher kurzerhand mit Medikamenten.  
Fachleute kritisieren diese Praxis nun, wie der "New Scientist" in seiner aktuellen Ausgabe berichtet. Ihr Argument: Traurigkeit kann - vorausgesetzt sie ist kein Dauerzustand - durchaus nützlich sein.
Verzweiflung "runterschlucken"
Eigentlich ist es normal, dass Menschen auf schlimme Erfahrungen negativ reagieren. Verliert man Partner oder Job, kann einen das zwischendurch völlig außer Gefecht setzen. Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung sind aber nicht gern gesehen in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft.

Es wundert daher wenig, dass immer mehr Menschen in Krisen zu Antidepressiva oder anderen Psychopharmaka greifen. Das Argument mancher Psychiater: So kann man verhindern, dass aus akuter Trauer eine echte klinische Depression wird.
Trauer als Selbstschutz
Andere hingegen sehen eine Gefahr darin, "normale" Traurigkeit wie eine Krankheit zu behandeln. Dieses menschliche Empfinden hat nämlich vermutlich einen biologischen Sinn, wie der US-Autor Jerome Wakefield in einem Buch zum Thema schreibt.

Er hat gleich mehrere Erklärungen dafür. Traurigkeit könnte etwa ein Selbstschutz sein, wie es auch bei manchen Primaten der Fall ist: Der Verlierer eines Kampfes zieht demonstrativ "wie ein begossener Pudel" ab. Ein klares Zeichen, dass er die Dominanz des anderen nicht mehr in Frage stellt.
Aus Fehlern lernen und reflektieren
Ein weitere etwas plausiblere Begründung für die Notwendigkeit von Trauer: Sie hilft uns, aus Fehlern zu lernen. Indem sie uns vorübergehend funktionsuntüchtig macht, lenkt sie unsere Aufmerksamkeit weg vom Alltag und zwingt uns zur Reflektion. Außerdem schütze uns die Angst vor der Trauer auch davor, Fehler zu wiederholen.

Der britische Psychiater Paul Keedwell kann sogar einer echten klinischen Depression einen Nutzen abgewinnen. Sie kann vor den negativen Auswirkungen von Langzeitstress bewahren. Dieser könnte Menschen an den Rand der völligen Erschöpfung treiben, während die Depression zum Nachdenken zwingt.

Außerdem hält er Traurigkeit für ein wichtiges Kommunikationsmittel. So können auch andere erkennen, dass wir Hilfe brauchen.
Zuviel Glück ist schlecht für Karriere
Auch für die Karriere kann zu viel Glück kontraproduktiv sein, zumindest belegt das eine Studie aus dem letzten Jahr. Laut Keedwell liegt das unter anderem daran, dass glückliche - sozusagen gesättigte - Menschen weniger nach Veränderung oder Verbesserung ihrer Situation streben.

Gibt man nun Menschen, die echte Probleme hätten, einfach Antidepressiva, könne das - im Umkehrschluss - also auch verhindern, dass diese ihre Situation verändern. Auch der US-amerikanische Psychiater Terence Ketter hält Selbstzufriedenheit für die Schattenseite des Glücks, Unzufriedenheit und Unglück hingegen seien ein Antrieb für Veränderung. Sie zwingen uns, das Leben zu überdenken.
->   Besser nur fast als ganz glücklich (25.1.08)
Schwierige Diagnose
Einig ist sich die Wissenschaft hingegen, dass eine "echte" Depression ernst genommen und behandelt werden muss. Die Crux liegt allerdings in der Diagnose: Wann ist es noch "normale" Trauer, wann schon eine Krankheit? Immerhin haben die einschlägigen Mittel auch Nebenwirkungen, mitunter gravierende.

Laut dem australischen Psychiater Gordon Parker liegt das Problem in der sehr breiten Definition der Depression. Davon hätte in erster Linie die Pharmaindustrie profitiert.

Die übliche Kriterienliste ("Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder"- DSM) berücksichtigt laut Jerome Wakefield auch nicht, was die Menschen gerade erlebt haben - der psychische Zustand nach schlimmen Erfahrungen sei rein äußerlich nämlich kaum von einer Depression zu unterscheiden. Deshalb sollte der persönliche Kontext bei der Diagnose immer mit bedacht werden.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 16.1.09
->   "New Scientist"
->   Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen (Wikipedia)
->   Paul Keedwell
->   Jerome C. Wakefield
->   Gordon Parker
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Glück ist ansteckend (5.12.08)
->   Studie: Antidepressiva haben kaum Wirkung (26.2.08)
->   Psychische Erkrankungen weltweit vernachlässigt (4.9.07)
->   Depression als gesellschaftliche Krankheit (30.3.07)
 
 
 
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01.01.2010