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Der soziale "Ausschluss" greift um sich  
  Schon vor der aktuellen Wirtschaftskrise haben Soziologen eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft konstatiert. Weniger Armut als den Mangel an Selbstbestimmung meinen sie mit dem Begriff der sozialen "Ausgeschlossenheit". Für den Soziologen Heinz Bude von der Universität Kassel charakterisiert er die Entwicklungen der Gegenwart wie kein anderer.  
"Ausgeschlossen" könnten in Zukunft auch Teile in der Mitte der Gesellschaft werden, die sich bisher auf der "Siegerseite" wähnten. Bude war anlässlich einer Tagung zum "Drama der Exklusion" am Freitag in Wien und hat science.ORF.at ein Interview gegeben..
Bild: Uni Kassel
Heinz Bude
science.ORF.at: Wer sind die Ausgeschlossenen?

Heinz Bude: Die Wege zum Ausschluss sind vielfältig, der Effekt immer der gleiche: Menschen haben das Gefühl verloren, dass sie Herr oder Frau ihres eigenen Lebens sind. Es geht nicht vorwiegend darum, ob sie arm sind oder sonstwie benachteiligt sind, sondern um das Empfinden, Teil der Gesellschaft zu sein. Die Exkludierten haben das nicht mehr. D.h. der Exklusionsbegriff hat die individuelle Komponente - bin ich noch Meister/in meines Lebens? - und die soziale Komponente - bin ich noch Teil des gesellschaftlichen Lebens, finde ich Berücksichtigung in der Politik?

Wenn man den Begriff so auffasst, ergibt er überraschende Möglichkeiten. Er kann Querverbindungen zwischen dem Rand und der Mitte der Gesellschaft herstellen. Denn möglicherweise geht die Exklusion von ihrer Mitte aus und nicht von ihren Rändern. Das sehen sie etwa bei Leuten, die einen guten Bildungsstatus haben, sich aber ein Leben lang mit nicht gesicherter Arbeit herumgeschlagen haben. Und das kann durch verschiedene Entwicklungen auch zu einer Exklusionskarriere führen.
Wie sieht eine solche Karriere typischerweise aus?

Mehrere Elemente spielen eine Rolle: Arbeit natürlich, prekäre Beschäftigung, wenn man aus dem Erwerbssystem hinausgefallen ist und der Wiedereintritt nicht gelingt. Es kann sein, dass man dadurch seine Familie stabilisiert - Stichwort informelle Ökonomie, eine Familienökonomie, die ein Gefühl der Inklusion gibt. Es kann aber auch sein, dass der Verlust der Arbeit auch die Familie unter Druck setzt.

Wenn sich das erweitert, kann ein weiteres Element dazukommen: Man wird auffällig in Institutionen, wird jemand, mit dem man schlecht reden kann, der sich immer aufregt, bekommt ein beinahe schon abweichendes Verhalten.

Ein ganz wichtiges Element ist schließlich der Körper: Wenn eine Art von Abhängigkeit auftritt, Drogen, Alkohol. Besonders bei Frauen kommt oft ein Zustand purer Erschöpfung hinzu, der sie in eine Spirale von sozialer Scham treiben kann.
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Heinz Bude war Teilnehmer der Tagung "Das Drama der Exklusion", die am Freitag, 16.1.2008, am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, stattgefunden hat.
->   Mehr über die Tagung
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Sie wollen bei Ihrer Definition von Ausgeschlossenen keine besondere Gruppe hervorheben.

Ja, entscheidend ist, dass für sie in den Aushandlungssystemen der Politik keine Adresse vorgesehen ist. Die prinzipiellen Gewinner unseres Systems, nennen wir ihn Kapitalismus, sind die Geld- und Vermögensbesitzer. Die prinzipiellen Verlierer sind all die, die nichts als ihre Arbeitskraft verkaufen können. Aber alle Kapitalismen haben Ausgleichsstrukturen ausgedacht, eine Art institutionalisierter Klassenkampf mit Tarifverhandlungen etc.

Das Problem ist: Wenn sie nicht zu einer diesen Parteien gehören - weder zu den Gewinnern noch zu den Verlierern -, kommen sie in dem Spiel gar nicht mehr vor. Die Ausgeschlossenen haben keinen Fürsprecher mehr und werden für die Politik erst dann wieder interessant, wenn sie als Protest- oder Nichtwähler auftreten.
Sie schreiben in Ihrem Buch "Die Ausgeschlossenen", dass unser System Abhängige erzeugt, haben Sie eine Gegenstrategie?

Mir ist es nicht darauf angekommen, zu sagen, was man tun soll, sondern was ist. Und ein Problem dabei liegt in den zwei Antworten, die wir immer geben. Die eine lautet: "Wenn die Arbeit weniger wird, erhöhen wir die Transferleistungen." Die andere: "Bildung, Bildung, Bildung." Beide tragen einen Spaltungsmechanismus in sich.

Über Transferleistungen kann man Leute von einem wohlfahrtsstaatlichen Gebersystem abhängig machen und ihnen das Gefühl geben, sie werden geduldet, indem sie alimentiert werden.

Noch viel wichtiger ist die Gruppe, die aus dem Bildungssystem ausgegliedert wird, dadurch dass es reformiert wird. Nehmen wir einmal an, wir könnten die Maturaquote auf 60 Prozent heben wie im gelobten Schweden, dann frage ich mich: Was ist mit den anderen 40 Prozent? Wenn sie etwa eine Lehrstelle haben wollen im Baugewerbe, werden die Baufirmen nicht auch lieber jemand mit Matura haben wollen? Wir haben perverse Effekte durch diese Bildungsstrategie.
Glauben Sie, dass der soziale Zusammenhalt bröckelt angesichts der Finanzkrise?

Das weiß ich nicht. Wir sind in der merkwürdigen Situation einer angekündigten Krise. Noch hat sie kaum Auswirkungen auf das Beschäftigungssystem, aber alle glauben daran. Sicher ist, dass viele Positionen in der Mitte unserer Gesellschaft bedroht sind, etwa Leute, die in einer internationalen Wirtschaftskanzlei arbeiten. Da bin ich mir sicher, dass Arbeitsplätze um ein Drittel reduziert werden, auch Stellen, die mit Medien zu tun haben, werden reduziert werden. So wird Exklusion zur Erfahrung neuer Verlierergruppen, die sich eine Zeit lang ihres Lebens als absolute Gewinner gefühlt haben.
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Radio-Hinweis
Auch die Ö1-Dimensionen widmen sich dem "Drama der Exklusion": Dienstag, 20.1.09, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1. Eine Sendung von Ulrike Schmitzer.
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Sind diese schlechten Zeiten gute Zeiten für die Soziologie?

Ja, das war immer so. Schlechte Zeiten schaffen Laborsituationen, in denen man schauen kann, was Leute unter bestimmten Bedingungen machen. Sie sind aber auch gute Zeiten für die Politik, weil sie unser politisches Vorstellungsvermögen anregen, da wir ja wirklich etwas tun müssen und die Dinge nicht so laufen lassen können wie bisher.

Sie sehen das im Augenblick in meiner Wissenschaft, hier hat es 20 Jahre lang geheißen, dass der Nationalstaat seine Souveränität verloren habe, jetzt haben wir ein großes Problem und von der Schwäche eines Nationalstaats kann keine Rede sein. Die wichtigen Dinge wurden auf Initiative von Nationalstaaten gemacht. Und das bringt viele Kollegen sehr durcheinander.

Die politisch interessante Frage lautet: Was machen wir jetzt mit dem wiedererstarkten Staat als letzem Gläubiger unseres Wirtschaftssystems? Ich bin überzeugt, dass wir vor einer Renaissance der Wiedergewinnung einer Kultur der öffentlichen Güter stehen, also die ganze Phase des Privatisierungswahns öffentlicher Güter in Gesundheit, Bildung und Sicherheit an sein Ende kommen wird.
Was sagt das über die Wissenschaften aus, die sich damit beschäftigen?

Ich denke, speziell die Ökonomen haben nun eine hohe Beweislast, bevor wir ihnen weiter zuhören. An die Vorstellung, dass der Markt alles richten wird, glauben in der Wissenschaft vielleicht noch einige, aber in der Gesellschaft niemand mehr. Wir sind in einer theoretisch sehr interessanten Situation: Die ganze Konstellation von Markt und Kultur - die einen, die an den Markt geglaubt haben, und die anderen, die sich in die Kultur geflüchtet haben - hat sich erübrigt. Wir stehen vor einer großen Rückkehr der Gesellschaft als zentraler Kategorie und natürlich einer Theorie der Gesellschaft.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 16.1.09
->   Heinz Bude, Universität Kassel
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01.01.2010