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Joseph Haydns neues Zeitbewusstsein
Zum 200. Todestag des Komponisten im Mai
 
  Zu Lebzeiten von Joseph Haydn veränderte sich die Zeitwahrnehmung grundlegend. Es entstand ein neues Bewusstsein für Beständigkeit, allmählichen und revolutionären Wandel. Nicht zufällig spielen daher einige seiner Werke auf Zeit oder Zeitverlauf an. Wie sich das neue Zeitbewusstsein des 18. Jahrhunderts auf das musikalische Denken ausgewirkt hat, beschreibt Martin Eybl, Musikwissenschaftler und Mitorganisator einer Tagung zum Thema, in einem Gastbeitrag.  
Zyklus und Prozess
Von Martin Eybl

In eine kleinbürgerliche Handwerkerfamilie hineingeboren, aufgewachsen in einer agrarisch und religiös geprägten Welt und jahrelang im Dienst feudaler Herren war Joseph Haydn mit natürlichen und traditionellen Zeitmustern konfrontiert, die das Leben der meisten seiner Zeitgenossen strukturierten.

Aufgang und Untergang der Sonne begrenzten die tägliche Arbeitszeit. Der Wechsel der Jahreszeiten verlagerte die Arbeitsschwerpunkte. Und die Feste des Kirchenjahres boten zeitliche Orientierung für Aussaat, Ernte und Steuerleistung sowie die Gelegenheit zum Feiern. Die Namenstage von Mitgliedern der Herrscherfamilien schufen überdies Abwechslung im Alltag durch Feste, Tanz und Geschenke. War ein Hof so bedeutend wie derjenige der Fürsten Esterházy, wurden bei solchen Gelegenheiten auch Opern gegeben.
Zeitstrukturen bestimmen Leben und Werk
Die Zeitstrukturen der Natur und der katholisch-feudalen Umwelt bestimmten Haydns Leben und wirkten sich auf sein Schaffen direkt aus. Die sich aus dem Lauf der Gestirne sich ergebenden Zeitmuster machte er zum Gegenstand musikalischer Werke.

Drei frühe Sinfonien tragen die Titel "Le matin", "Le midi" und "Le soir" (1761). Vierzig Jahre später widmete der alte Haydn sein letztes Oratorium den "Jahreszeiten" (1801). Und der esterházysche Hofkapellmeister schrieb für regelmäßig wiederkehrende höfische Feste die meisten seiner Opern.
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Tagung in Wien
Die interdisziplinäre Tagung "Zyklus und Prozess. Haydn und die Zeit" findet von 19. Bis 21. Jänner im Wiener Konzerthaus statt.
Ort: Wiener Konzerthaus, Schönberg-Saal, Lothringer Straße 20, 1030 Wien (Beginn jeweils 9.30), Eintritt frei.
->   Zum Programm
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Unumkehrbare Veränderungen
Wir erfahren Zeit durch die zyklische Wiederkehr des immer Gleichen, den täglichen Aufgang der Sonne, das Alternieren von Arbeitstagen und Wochenenden, das jährliche Schauspiel des Wintereinbruchs und der Baumblüte und ebenso durch den Kreis der Feste, die wir alle Jahre wieder feiern.

Komplementär dazu erleben wir den Ablauf der Zeit durch die Erfahrung von Veränderung. Wir realisieren den Verfall von Gebäuden, den Umbau der Dörfer und Straßenzüge unserer Kindheit oder das Wachsen des Jungwalds. Solche Prozesse lassen sich nicht einfach rückgängig machen. Die Spuren des Alterns im vertrauten Gesicht lassen uns merken, wie die Zeit vergeht. Die Zeiten ändern sich, und wir verändern uns in ihnen.

In seiner langen Lebensspanne sah sich auch Haydn unumkehrbaren Veränderungen gegenüber. Er begleitete und beförderte das Aufkommen des Bürgertums als neuer kultureller Trägerschicht, von deren expandierendem Musikalienmarkt er mit Kammer- und Klaviermusik profitierte. Haydn war Zeitzeuge der französischen Revolution und begegnete bei seinem mehrjährigen Aufenthalt in London in den 1790er Jahren einer wirtschaftlich und kulturell weit fortgeschrittenen Gesellschaft.
Neuer Fortschrittsbegriff
Seine Epoche entwickelte den Fortschrittsbegriff und erlebte die Gegenwart als Resultat einer zunehmenden Beschleunigung von historischem Wandel. Die 1794 in London entstandene Sinfonie in D-Dur wurde unter dem Beinamen "Die Uhr" verbreitet, was die große Bedeutung belegt, die Uhren als Zeitmesser gewonnen hatten.

Der Gebrauch von Taschenuhren hatte sich im 18. Jahrhundert in weiten Teilen der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt, Uhren waren zum Modeartikel geworden. Ob der Titel der Sinfonie "Die Uhr" authentisch ist oder nicht, erscheint von sekundärer Bedeutung gegenüber der Tatsache, dass Haydn im Andante der Sinfonie (wie übrigens auch in anderen Werken) ein Perpetuum mobile, das musikalische Abbild einer durchlaufenden mechanischen Bewegung schuf.
Extrembereiche des Tempos erkundet
Haydn machte Bewegung zum Gegenstand seiner Musik. Wie manche seiner Zeitgenossen erkundete er die Extrembereiche des Tempos. Die Mehrheit seiner Sinfonien endet Presto, der schnellsten Tempostufe, nicht selten sogar zum Presto assai oder Prestissimo gesteigert.

Andererseits komponierte er mit seinem Instrumentalmusikzyklus Die sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuze eine Folge ausschließlich langsamer Sätze. Wie kaum ein Komponist vor ihm spielte Haydn mit der Erwartungshaltung seiner Hörer, die nun, anders als bei älteren Werken, zum Erfassen der Musik dazu angehalten waren, von Anfang bis zum Ende zu folgen.

Nur einem solchen intensiven Lauschen erschließen sich der Witz, der Haydns Musik den Aussagen bereits Zeitgenossen zufolge auszeichnet, und die komponierten Irrwege, die seine Musik immer wieder einschlägt.
Subtile Tonwelt
Man hat ihn mit Laurence Sterne verglichen, den Autor des legendären Tristram Shandy, eines Romans, in dem der Erzählfaden die kuriosesten Verwicklungen beschreibt und immer wieder die Erwartungen der Leserinnen und Leser durchkreuzt.

Der höchst unerwartete Fortissimo-Schlag des gesamten Orchesters nach leiser und leiser werdenden einleitenden 15 Takten trugen einer der Londoner Sinfonien den Beinamen "The Surprise" ein. Überraschungen dieser Art sind die einfachsten Beispiele für das Spiel mit Erwartungen in Haydns Tonwelt, die allgemein an Subtilität und Esprit ihresgleichen sucht.

[19.1.09]
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Martin Eybl ist Professor für Musikgeschichte an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Schwerpunkte seiner Forschungen liegen in den Bereichen Ästhetik und Musiktheorie des frühen 20. Jahrhunderts, österreichische Musik des 18. Jahrhunderts sowie Editionen Alter Musik. Zu seinen Publikationen zählen u.a. "Ideologie und Methode. Zum ideengeschichtlichen Kontext von Schenkers Musiktheorie" (1995), "Die Befreiung des Augenblicks. Schönbergs Skandalkonzerte von 1907 und 1908. Eine Dokumentation" (2004) und "Schenker-Traditionen. Eine Wiener Schule der Musiktheorie und ihre internationale Verbreitung" (2006).
->   Martin Eybl
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->   Joseph Haydn (Wikipedia)
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Das Haydn-Jahr in Ö1
2009 ist Haydn-Jahr. Gedacht wird des 200. Todestages des Komponisten. Für das Burgenland ist es Anlass eines großen Festivals und Ö1 trägt das seine zum Gedenken bei - unter anderem in Form der vielteiligen Reihe "Haydn örtlich".
->   Ö1: Haydn örtlich
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01.01.2010