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Finanzkrise: Das Sündenregister der Ökonomie  
  Ein französischer Ökonom übt angesichts der internationalen Finanzkrise massive Kritik an seinen Fachkollegen. Viele würden die impliziten Annahmen ihrer Modelle mit der Realität verwechseln, lautet sein Hauptvorwurf. Und: Wäre die Ökonomie so modellkritisch wie die Physik, dann wäre der Kollaps der Finanzmärkte so nicht geschehen.  
Harte Kritik
"Die Ökonomie braucht eine wissenschaftliche Revolution". So lautet der Titel eines Aufsatzes, den der französische Ökonom Jean-Philippe Bouchaud kürzlich im Fachblatt "Nature" (Bd. 455, S. 1181) veröffentlicht hat. "Im Vergleich zur Physik" heißt es da in dem Text, "kann man durchaus sagen, dass die quantitativen Ergebnisse der Wirtschaftswissenschaften enttäuschend sind. Raketen fliegen zum Mond, aus Atomen kann man Energie gewinnen und die Satelliten des GPS-Systems weisen Millionen Menschen den Weg. Und was ist das Flaggschiff der Ökonomie? Abgesehen von der Unfähigkeit, Krisen vorherzusehen oder abzuwenden - inklusive der gegenwärtigen Kreditkrise."

Das ist natürlich eine Polemik, denn Physik und Ökonomie kann man eben nur bedingt vergleichen. Isaac Newton hat das vor 300 Jahren so ausgedrückt: "Es ist schwieriger die Verrücktheiten der Menschen vorherzusagen als die Bewegung der Planeten."
Immunisierte Dogmen
Das weiß natürlich auch Bouchaud. Ihm zufolge besteht der wahre Kern seiner wuchtig vorgetragenen Kritik darin: Die Mainstream-Ökonomie hinterfragt offenbar ihre grundlegenden Annahmen viel zu wenig. Das gehe so weit, schreibt Bouchaud, dass sie gegen widersprechende Beobachtungen sogar immun zu sein scheinen.

Ein Beispiel dafür ist etwa das Konzept des Homo oeconomicus, also die Annahme, der Mensch orientiere sich durchgängig am Prinzip der Nutzenmaximierung. Verhaltensstudien zeigen nämlich, dass der Mensch in vielen Situationen Fairness und Kooperation durchaus stärker gewichtet als finanzielle Aspekte.

Eine anderes ist etwa das Dogma der "Effizienz der Märkte". "Das heißt etwa im Fall von Aktien, dass sie ein Spiegel der tatsächlichen Unternehmenswerte sind", sagt Markus Marterbrauer vom Wirtschaftsforschungsinstitut im Gespräch mit science.ORF.at. "Diese Annahme hat sich angesichts der aktuellen Finanzkrise erledigt".
Das Beispiel Black-Scholes
Man kann die Kritik auch auf anderer Ebene formulieren: In den 70er Jahren haben drei Wirtschaftswissenschaftler ein mathematisches Modell für die Bewertung von Finanzoptionen entwickelt, das heute als Black-Scholes-Modell bezeichnet wird. Diese Innovation erwies sich in der Praxis zunächst als sehr erfolgreich und wurde auch mit dem Ökonomie-Nobelpreis belohnt.

Dennoch war die allgemeine Verwendung des Black-Scholes-Modells hauptverantwortlich für Aktiencrash des Jahres 1987. Das Modell geht nämlich davon aus, dass die Preisänderungen normalverteilt sind - was nichts anderes bedeutet, als dass man die Wahrscheinlichkeit extremer Ereignisse vernachlässigen kann. Diese Annahme wurde im Oktober 1987 klar widerlegt.

Zunächst fielen die Aktienkurse. Da alle Anleger ihr Risiko synchron mit ähnlichen Modellen berechneten, verstärkten sie den Effekt um ein Vielfaches und schufen damit paradoxerweise jenes Extremereignis, das laut Modellannahmen ausgeschlossen wurde. Das Ergebnis: die Kurse fielen ins Bodenlose.
Per Herdentrieb in den Abgrund
 
Bild: EPA

Von einsamen Warnern abseits des Mainstreams abgesehen, habe die große Masse der Ökonomen daraus wenig gelernt, denn die gegenwärtige Finanzkrise sei ganz ähnlich abgelaufen, sagt Markus Marterbauer.

"Herdenverhalten" nennt man die Situation, wenn alle Anleger im Gleichschritt marschieren, weil sie ihr individuelles Agieren an jenem der Gruppe ausrichten. Das mag bei ökonomischer Schönwetterlage zwar funktionieren - in Krisensituationen ist diese Gleichschaltung jedoch fatal, weil sie zu einem Lawineneffekt führt.

"In den letzten fünf bis zehn Jahren hatten wir das entsprechende Herdenverhalten auf den Vermögensmärkten in Form spekulativer Übertreibungen. Und jetzt ist das Ganze eben wieder in sich zusammengestürzt. Die Erkenntnis, dass es so etwas wie Herdenverhalten gibt, ist aber nicht neu, das hat John Maynard Keynes bereits in den 30er Jahren festgestellt. Nur ist seine damalige Analyse offensichtlich immer noch von Relevanz."
Eigentliche Ursache: Deregulierung
Eines sollte man jedoch klar auseinander halten, betont Marterbauer. Die unkritische Verwendung von Modellannahmen mag zwar der Auslöser der aktuellen Krise sein, die eigentlichen Ursachen liegen allerdings tiefer.

"Die Ursache liegt eher in der Deregulierung auf den Finanzmärkten, die dazu geführt hat, dass sich die Probleme auf die ganze Welt ausgebreitet haben - und nun etwa biedere österreichische Unternehmen wie die Bundesbahnen in diese Krise involviert sind."
Ökonophysik als Ausweg?
Jean-Philippe Bouchaud empfiehlt jedenfalls: Mann müsse die ökonomische Theorie stärker an der Wirklichkeit testen und die gängigen Schönwettermodelle durch krisensichere Konzepte ersetzen. Es sei dringend nötig, sich stärker an Versuch und Irrtum zu orientieren, wie es etwa in der Physik üblich ist, schreibt er. Wenngleich klar ist: Dieser Paradigmenwechsel würde die ohnehin schon komplizierte Finanzmathematik noch komplizierter machen. Denn, wie erwähnt, Menschen sind keine Planeten.


Bleibt noch zu klären: Hätte so eine Neuorientierung der Ökonomie den Kollaps der Finanzmärkte verhindern können? Marterbauer: "Grundsätzlich wär's natürlich verhinderbar gewesen, wenn die Finanzmärkte ausreichend reguliert worden wären. Warum man auch 'Nein' argumentieren kann: An diesen Dingen haben sehr viele Leute sehr viel Geld verdient. Und die Politik tut sich sehr schwer, solche individuellen Interessen zu regulieren, weil diese Interessen sehr mächtig sind."

Robert Czepel, science.ORF.at, 26.1.09
->   Markus Marterbauer
->   Black-Scholes-Modell - Wikipedia
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01.01.2010