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Mengele: Verantwortlich für hohe Zwillingsrate?
Diskussion um die Rolle des Nazi-Arztes in Südamerika
 
  "Mengeles geheimes Labor entdeckt" und "Arier-Zucht im Urwald" titelten vor kurzem deutsche Zeitungen. Der Grund der Schlagzeilen: Ein Historiker will Hinweise darauf entdeckt haben, dass der Auschwitz-Todesarzt Josef Mengele für die hohe Zwillingsrate in einem brasilianischen Dorf verantwortlich ist. Biologen bestreiten nun diesen Zusammenhang.  
Sie haben die überdurchschnittlich Zahl an Zwillingen bereits vor über zehn Jahren untersucht und glauben heute wie damals an ganz natürliche - sprich: genetische - Ursachen.
Jede zehnte Geburt bringt Zwillinge
Bild: http://www.candidogodoi.rs.gov.br/
Candido Godoi: "Terra de Gemeos"
Candido Godoi ist eine Kleinstadt im Süden Brasiliens, die sich selbst als "Land der Zwillinge" bezeichnet - wie im Bild rechts zu sehen ist, bereits bei der Stadteinfahrt. Schon seit einigen Jahrzehnten ist die hohe Rate an Zwillingsgeburten weit über die 7.000-Einwohner-Kleinstadt hinaus bekannt.

Zwischen 1990 und 1994 betrug sie zehn Prozent, wie die Genetikerin Ursula Matte gegenüber der Wissenschaftszeitschrift "New Scientist" berichtete. Der Durchschnitt im Rest der südbrasilianischen Provinz Rio Grande do Sul lag bei 1,8 Prozent.
Viele blond und blauäugig
 
Bild: http://www.candidogodoi.rs.gov.br/

Woher also kommen diese signifikanten Unterschiede, auf die die offizielle Website von Candido Godoi mit Bildern wie oben beinahe stolz aufmerksam macht? Und wieso sind viele der Zwillinge so blond und blauäugig?

Für den argentinischen Historiker Jorge Camarasa liegt das an einem der unheilvollsten Mediziner, der je gelebt hat: Josef Mengele.
"Todesengel von Auschwitz"
Der als "Todesengel von Auschwitz" bekannte Arzt und SS-Offizier ordnete in dem Konzentrationslager die Ermordung von rund 40.000 Menschen an. Außerdem führte er zahlreiche Experimente mit lebenden Menschen durch, darunter nicht wenige "Zwillingsstudien" mit dem Ziel, die "arische Geburtsrate" zu erhöhen.

Nach dem Krieg floh Mengele mit gefälschten Rotkreuz-Papieren nach Lateinamerika. Trotz internationaler Fahndung wurde er nie gefasst. 1979 starb er bei einem Badeunfall bei Sao Paulo. 1985 wurde sein Grab entdeckt und seine Leiche mit DNA-Tests identifiziert.
Schaffung der "Herrenrasse"?
Wie Jorge Camarasa in seinem vor kurzem erschienenen Buch "Mengele: El Angel De La Muerte En Sudamerica" schreibt, hielt sich der Nazi-Arzt in den 1960er Jahren oft in Linha Sao Pedro auf. Die kleine Siedlung mit vorwiegend deutschen Bewohnern liegt ganz in der Nähe von Candido Godoi, und just zu jener Zeit scheint dort die Zwillingsgeburtsrate gestiegen zu sein.

Mehrere britische Zeitungen berichteten vor knapp einer Woche von dieser These. "Ich glaube, dass Candido Godoi Mengeles Labor gewesen ist, in dem er endlich seinen Traum verwirklichen konnte, eine Herrenrasse mit blonden und blauäugigen Ariern zu schaffen", wird Camarasa etwa im "Telegraph" zitiert.
Behandlung von Frauen als "Dr. Rudolph Weiss"
Laut zahlreichen Interviews, die der Historiker mit Bewohnern der Kleinstadt gemacht hat, frequentierte ein gewisser "Dr. Rudolph Weiss" ab 1963 regelmäßig Candido Godoi. Anfangs als Tierarzt hätte er sich dann vor allem um die Behandlung von Frauen gekümmert.

"Es gibt Zeugnisse, dass er ihre Schwangerschaften begleitet und sie mit neuen Formen von Medikamenten und Methoden behandelt hat, auch dass er viel über die künstliche Befruchtung von Menschen gesprochen hat. Er hat auch weiter mit Tieren gearbeitet und behauptet, dass er weiß, wie Kühe männliche Zwillinge gebären können", erklärte Camarasa.
Genetiker bestreiten Mengele-These
Von dieser Nazi-These, die auch an den Inhalt des Films "Boys from Brazil" erinnert, hält die Genetikerin Ursula Matte vom Spital in Porto Alegre sehr wenig. Sie hat mit Kollegen bereits vor über zehn Jahren eine Studie vorgelegt, die die ungewöhnlich hohe Zwillingsrate von Candido Godoi untersucht hat.

Die Forscher haben zwar keine definitiven Beweise finden können, warum es dort so viele Zwillinge gibt. Der Vergleich mit anderen "Zwillingsstädten" der Welt - die zumeist in entlegenen und isolierten Gegenden liegen und eine hohe Inzuchtrate aufweisen - habe aber ergeben, dass keine externen Faktoren für das Phänomen verantwortlich sind.
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Die Studie "Study on possible increase in twinning rate at a small village in south Brazil" ist im Juni 1996 in der Fachzeitschrift "Acta geneticae medicae et gemellologiae" (Bd. 45, S. 431) erschienen.
->   Abstract der Studie
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Eine Frage der Vererbung
Die Forscher führten damals Bluttests bei 17 von 22 Zwillingspärchen durch, die zu dem Zeitpunkt in Candido Godoi lebten, rund die Hälfte davon eineiig. Es zeigte sich, dass einzelne Familien eine lange Tradition mit Mehrfachgeburten hatten, auch das Inzuchtniveau innerhalb der Gemeinde war sehr hoch - beides Hinweise auf genetische Veranlagungen.

Statt auf die "Arisierungsthese" verweist Matte auf den simplen Umstand, dass die Gemeinde von Deutschen gegründet worden war, weshalb ihre Nachfahren entsprechend eher "teutonische Züge" tragen.

"Ich glaube auch nicht, dass Mengele das Wissen, geschweige denn die Mittel hatte, um den Anstieg der Zwillingsgeburten zu erzeugen", so die Genetikerin gegenüber dem "New Scientist". Außerdem habe es in jeder der untersuchten Zeitperioden in Candido Godoi hohe Zwillingsraten gegeben, auch in den 1990er Jahren, in denen Mengele eindeutig keinen Einfluss mehr nehmen hatte können. Zu diesem Zeitpunkt war der Nazi-Doktor bereits lange tot.

[science.ORF.at, 30.1.09]
->   Buch: Mengele - El Angel De La Muerte En Sudamerica
->   Artikel im "New Scientist"
->   Artikel im "Telegraph"
->   Artikel in der "Daily Mail"
->   Candido Godoi (offizielle Website)
->   Josef Mengele (Wikipedia)
->   Film: The Boys from Brazil (IMDB)
 
 
 
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01.01.2010