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Mechanismen der Masse
Marschieren macht treu, das Gehirn ist dabei glücklich
 
  Im Zuge der großen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts war Massenpsychologie ein neues und dringliches Forschungsthema. Für Sigmund Freud etwa wurden Menschen in Massen in erster Linie von ihrem Unbewussten geleitet. Elias Canetti beschrieb die Lust, die durch die Befreiung von der "Last der Individualität" entsteht. Aktuelle Studien von Psychologen geben ihren Vorgängern Recht.  
Gemeinsames Marschieren und Tanzen etwa steigert ihnen zufolge die Treue zur Gruppe. Unser Gehirn spielt dabei mit, denn konformes Verhalten wird mit Glückshormonen belohnt.
"Teil eines Ganzen"
"Es ist das Gefühl Teil eines größeren Ganzes zu sein", sagt der Psychologe Scott Wiltermuth in der aktuellen Ausgabe des "New Scientist", "gemeinsame Aktivitäten lassen das Wohl der Gruppe genauso wichtig erscheinen wie unser eigenes."

Der Wissenschaftler der Universität Stanford führte mit seinem Kollegen Chip Heath mehrere Versuche durch, bei denen Probanden entweder gemeinsame Tätigkeiten verrichteten oder nicht: In einem Fall wurde z.B. miteinander getanzt und gesungen bzw. nicht, in einem anderen Fall marschierten die Teilnehmer im Takt bzw. individuell.

Anschließend wurde ihr kollektives Handeln in verschiedenen Situationen überprüft. Es zeigte sich, dass Teilnehmer der synchron handelnden Gruppen danach loyaler gegenüber den anderen waren als individuelle Teilnehmer. "Gemeinsames Marschieren, Tanzen oder Singen kann das Trittbrettfahrer-Problem in Gruppen abschwächen. Rituale der Synchronie könnten deshalb für einige Kulturgruppen vorteilhaft gewesen sein und ihr Überleben gegenüber anderen gesichert haben", schreiben die Forscher in der Fachzeitschrift "Psychological Science" (Bd. 20, S. 1).
Mehr Straßenfeste!
Diese Ergebnisse bestätigt der Psychologe Jonathan Haidt von der Universität Virginia. Er glaubt, dass abgestimmtes Verhalten wie Gruppentanz und Gesang - zumindest auf lokaler Ebene - Spannungen lösen und Glück verbreiten kann.

Seine "Bienenstock-Hypothese" (hive hypothesis) besagt, dass Menschen gelegentlich Teil eines größeren sozialen Organismus werden müssen, um die höchsten Stufen der Zufriedenheit zu erreichen. Das Ziel seiner im "Journal of Legal Studies" veröffentlichten Studie (Bd. 37, S. 133) ist, dass die öffentliche Ordnung von "glücklichen Gruppen" profitiert.

Haidt meint aber keinen riesigen, hierarchischen "Hive" wie eine Ameisenkolonie, wo es zwar kaum Aggression innerhalb des gleichgeschalteten Volks gibt, dafür Grausamkeiten zwischen den Völkern. Der Psychologe denkt eher daran, kleine, egalitäre, ethnisch durchmischte "Hives" zu fördern, die auf öffentliches Wohl orientiert sind und keine Feindseligkeiten gegeneinander hegen.

Praktische Umsetzungstipps liefert Haidt ebenfalls: etwa Lärmvorschriften lockern und Steuern erleichtern, damit mehr Straßenfeste und Musikveranstaltungen mit Gemeinschaftstänzen abgehalten werden können.
Einfluss von Bildern
Bevor aber noch lokale Menschenmassen tanzend und lächelnd durch die Straßen ziehen, gibt es die real existierende Propaganda, die von weniger wohlmeinenden Menschen eingesetzt wird. Wie Propagandatechniken den Zusammenhalt von Gruppen stärken, hat der Sozialpsychologe Charles Seger im "Journal of Experimental Social Psychology" (doi:10.1016/j.jesp.2008.12.004) untersucht.

In seinem Versuch wurden Studierende in zwei Gruppen geteilt: Die eine bekam Fotos von Statussymbolen ihrer Universität zu sehen, sie wurden also vorgestimmt oder "geprimed"; die andere nicht. Danach wurden beide Gruppen nach ihren Gefühlen befragt: Bei den Vorgestimmten fielen die Antworten signifikant ähnlicher aus, sie waren eindeutig stolzer und glücklicher als ihre nicht vorgestimmten Kollegen.
Belohnung für Konformität
Das große Interesse an Untersuchungen menschlicher Herdenmentalität fußt u.a. auf Erkenntnissen der Hirnforschung. 1995 entdeckte der Italiener Giacomo Rizzolatti im Versuch mit Affen die Spiegelneuronen. Diese Nervenzellen geben bei der Beobachtung von Handlungen die gleichen Ladungen ab, wie wenn die Handlungen selbst gesetzt würden. "Es sieht so aus, als wären wir zum Kopieren veranlagt", sagt etwa Jonathan Haidt in der aktuellen Ausgabe des "New Scientist".

Weitere Gehirn-Untersuchungen belegen dies: So fand der Neurologe Vasily Klucharev heraus, dass mehr vom Glückshormon Dopamin freigesetzt wird, wenn der Mensch mit der Gruppe handelt. ("Neuron", Bd. 61, S. 140)

Neuronale Scans zeigen demgegenüber ein "Fehler-Signal" im Hirn, wenn ein Mensch etwa merkt, dass seine Meinung zu einem Thema sich von der Meinung der Mehrheit unterscheidet. Daraus leitet Klucharev einen Gewöhnungseffekt ab: Es ist angenehmer, der Masse zu folgen.

[science.ORF.at, 6.2.09]
->   Scott Wiltermuth
->   Jonathan Haidt
->   Vasily Klucharev
->   Spiegelneuronen - Wikipedia
->   New Scientist
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Michael Gamper: Ich und die Menge
 
 
 
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01.01.2010