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Köln: "Größter Kulturverlust seit Zweitem Weltkrieg"  
  Historiker und Archivare versuchen die Verluste nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs am Dienstag zu beziffern: Sie haben wenig Zuversicht - Unikate europäischen Kulturguts könnten verloren sein.  
Dazu gelten zwei Personen immer noch als vermisst. Es besteht kaum Hoffnung, sie noch lebend zu bergen.

Unter erschwerten Bedingungen - weitere Nachbargebäude könnten einstürzen - durchsuchen die Rettungskräfte die Trümmer. Gleichzeitig versuchen 20 Archivare und Restauratoren verschüttete Dokumente zu bergen.
26 Regalkilometer Akten
Zuversicht herrscht nicht in Köln, weder für die verschütteten Personen noch die Archivalien. In einer Presseaussendung am Donnerstag verlautbarten die Archivleiter von Lübeck, Bremen und Hamburg: "Sollten die Verluste in Köln so umfangreich sein, wie man befürchten muss, wäre dies der sicher größte Verlust von Kulturgut seit dem Zweiten Weltkrieg."

Der Schaden könne noch größer sein als 2004 beim Brand in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek, sagt der Kölner Kulturdezernent Georg Quander gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Während damals mehr als 50.000 Bücher verbrannten, ist nun eine Sammlung von Stadt-, Politik-, Rechts- und Kulturgeschichte verschüttet worden, die seit Anfang des 15. Jahrhunderts besteht.

Auch der Leiter des Kölner Diözesanarchivs Joachim Oepen sagt gegenüber der "Welt", dass möglicherweise größere Schätze verloren gegangen seien als in Weimar. Das Gebäude, in dem das "Historische Archiv der Stadt Köln" untergebracht war, wurde zwar erst 1971 erbaut, es beherbergte aber das größte kommunale Archiv nördlich der Alpen. Es umfasste 26 Regalkilometer Akten, 104.000 Karten und Pläne, 50.000 Plakate sowie 800 Nachlässe und Sammlungen.
Keine Versicherung
Georg Quander beziffert gegenüber der "Welt" den Versicherungswert des Archivmaterials auf 400 Millionen Euro. Der Hauptversicherer des Archivs, die Provinzial Rheinland, sieht jedoch keine Veranlassung, diese Kosten zu übernehmen. Auf Anfrage der "Süddeutschen" heißt es: "Die Stadt Köln hat beim Gebäude auf eine Elementarversicherung verzichtet und das Stadtarchiv nur gegen Feuer, Sturm und Explosion versichert - dabei ging es wohl auch um die Höhe der Prämie."

Der langjährige Abteilungsleiter des Archivs, Eberhard Illner, spricht in der "Süddeutschen" davon, die Stadt sogar seit geraumer Zeit vor einem Unglück gewarnt zu haben. Er bezeichnet das Archiv als "Gedächtnis einer der ältesten bürgerlichen Gemeinschaften der Welt". Obwohl das Archiv immer neue Bestände aufnahm und das Gebäude voll ausgelastet war, investierte die Kölner Stadtverwaltung nicht in einen Erweiterungsbau.
Schätze europäischen Kulturerbes
Im Archiv zu finden war etwa das älteste Repertorium, ein Archivbuch aus dem Jahr 1408. Von den insgesamt 65.000 Urkunden war die älteste aus dem Jahr 922. Sie soll aus St. Ursula, einer Basilika der Stadt, stammen - ihre Authentizität wird jedoch von Historikern angezweifelt.

Als weiterer Schatz des Stadtarchivs galten die "Schreinsbücher" des Hochmittelalters. Diese Urkunden, Vorläufer der heutigen Grundbücher, wurden in Truhen aufbewahrt, und wiesen alle An- und Verkäufe von Immobilien in den jeweiligen Kirchengemeinden aus. Auch darin niedergelegt war der Immobilienhandel der Kölner Juden. Da die Händler Anmerkungen zur Herkunft der Käufer dazuschrieben, dienten sie der Stammbaumforschung. Helmuth Fußbroich vom "Verein zum Bau eines Jüdischen Hauses und Museums in Köln" sagt gegenüber der "Welt": "Damit konnte man in Köln ganze genealogische Stammbäume jüdischer Familien bestimmen - etwas Einmaliges auf der ganzen Welt, denn wir sprechen von der Zeit vom zwölften bis fünfzehnten Jahrhundert."

Ausgiebig war auch das Nachlass-Archiv: Etwa 800 Nachlässe und Teilnachlässe wurden archiviert. Die Forschungseinrichtung bot Zugang zu den Nachlässen des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, Jan van Werth oder Jacques Offenbach. Auch die unveröffentlichten Manuskripte, die privaten Korrespondenz und die Nobelpreisurkunde von Heinrich Böll waren hier archiviert.
Teile verfilmt
Gegenüber der "Welt" sagt Ex-Archivleiter Illner, dass ein großer Teil der Bestände aus der Zeit vor 1945 "sicherheitsverfilmt" worden sei und sich eingelagert im Barbarastollen im Schwarzwald befinde. Die Kölner Landesregierung erklärte gegenüber der "FAZ", "dass die alten und weltberühmten Urkunden weitgehend sicher geborgen werden können." Die Urkundenbestände seien durch die Katastrophe womöglich weniger betroffen als die Hauptbestände, weil sie in Kellerräumen gelagert wurden.

Laut "FAZ" dürften sich aber noch wertvollere Urkunden im Hauptmagazin befunden haben. Ausgelagert wurden in jüngster Zeit auch nur eher belanglose Dokumente. Außerdem gelte die Qualität der verfilmten Bestände, die im Schwarzwald liegen, als mäßig bis schlecht.
"Katastrophe für Geschichtswissenschaft"
Johannes Fried, Professor für Mittelalterliche Geschichte in Frankfurt am Main, äußert sich in einem Interview mit der "Süddeutschen" ebenso pessimistisch: Wenn das Archiv so zerstört sein sollte, wie es den Anschein habe, bedeute dies eine Katastrophe für die europäische Geschichtswissenschaft.

Nicht nur für die Dokumentation der Stadtgeschichte sei der Verlust verheerend, so Fried. Köln sei im Mittelalter das Zentrum der nach London orientierten Hanse gewesen. Es gebe nur noch in Lübeck und Nürnberg Archive von großen Fernhandelsstädten.

[science.ORF.at, 6.3.09]
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->   Historisches Archiv, Stadt Köln
->   Das Archiv auf Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010