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Moderne Wissenschaften: Alles im Kasten  
  Ordnung ist das halbe Leben: Ganz besonders gilt das für die modernen Wissenschaften, die ohne Sammeln und systematisches Einordnen nicht möglich wären. Ein besonders wichtiges, aber weithin unterschätztes Werkzeug dafür ist der Kasten: Er hat den Forschern erst den notwendigen Rahmen und Raum für ihre Kategorien gegeben, meint die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen von der Universität Tübingen.  
In einem Interview mit science.ORF.at spricht sie auch über Marcel-Prawy'eske Typen in der Wissenschaft sowie die Verbindungslinien zwischen dem Exzerpierschrank von Leibniz und dem Zettelkastensystem von Luhmann.
science.ORF.at: Kennen Sie Marcel Prawy?

Anke te Heesen: Leider nein.

Er war der Doyen der österreichischen Opernszene, der einerseits im Hotel Sacher gewohnt hat, zum anderen in der eigenen Wohnung seine Habseligkeiten in Plastiksackerln aufgehoben und organisiert hat. Entspricht dieses Plastiksackerlsystem dem Schrank in der Wissenschaft?

Man kann das sicher in die Nähe rücken. Ich finde die Geschichte übrigens hinreißend. Sie zeigt, wie Wissenschaft in gewisser Weise nachgeahmt wird, denn das große Projekt des 20. Jahrhunderts hat darauf gezielt, dass wir alle Wissenschaftler werden sollen. Das lässt sich am einfachsten an diesen Ordnungs- und Ablagebemühungen sehen, die wir alle anstellen, die wir bürokratisiert wurden und Büro-orientiert funktionieren sollen.
Das Plastiksackerl hat den Nachteil, dass man es relativ schwer beschriften kann, Prawy hat das zwar angeblich mit dicken Filzstiften gemacht, dennoch ist es nach 200 Sackerln vermutlich schwierig etwas wieder zu finden.

Das kommt darauf an. Wenn Sie eine Julius Meinl Plastiktüte für eine bestimmte Autogrammkartenabteilung wählen, macht das absolut Sinn, weil dann haben sie ein Farbsystem, das nicht aus dem Schreibwarengeschäft stammt, sondern der Alltagskultur entnommen wird. Schwieriger ist die Frage der Unterbringung: Denn ich muss die Tüten aufrecht stellen, wenn ich sie hinlege, wird es problematisch.
Prawy war vor allem Künstler und Kunstexperte. Gibt es auch Wissenschaftler, die sich des eher anarchischen Sackerlsystems bedienen oder sammeln die doch akribischer?

Es gibt so etwas wie einen Stil der Objektivität, und Wissenschaftler würden wohl ein anderes Bild dafür wählen. Besonders seit der Wende zum 19. Jahrhundert versuchen sie ihre Kategorien der Objektivität auch im Ästhetischen zu fassen: größtmögliche Seriosität nach außen, gleichförmiges Erscheinen, eine Rahmung, die immer zurücktritt vor dem Inhalt.

Man findet natürlich auch unter Wissenschaftlern Messies, die versuchen, Texte oder Gegenstände in ihrer Wohnung zu stapeln. Franz Maria Feldhaus, einer der selbsternannten Technikhistoriker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist zwar kein Messie. Er hat aber nicht nur die gesamte Familie in seine Arbeit mit eingespannt, sondern auch Systeme angelegt, die ins Endlose wucherten.

Das Messie-Syndrom eines Wissenschaftlers drückt sich oft darin aus, dass sie der Systeme, die sie anlegen, nicht mehr Herr werden, sie ufern nur noch aus, ohne dass daraus das Werk oder der ultimative Text entsteht. Diesem Archivgedanken unterliegen die meisten und verrennen sich auch heillos.
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Gastvortrag an der Angewandten
Anke te Heesen hielt vor kurzem einen Gastvortrag am "ecm - educating/curating/managing", dem Masterlehrgang für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Titel "Möblierung der Wissenschaft. Die Bedeutung des Schrankes bei der Schaffung von Wissen".
->   Ecm, Angewandte Wien
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Sie beschreiben den Schrank für die Wissenschaft als zentrales System: Warum ist er so wichtig?

Er ist in mehrfacher Hinsicht eine Art Keimzelle, wobei Ordnung ein zentraler Punkt ist. Spätestens die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts hat versucht, die Fülle des zu Erforschenden zu kategorisieren. Kleine Schränke wurden auf Expeditionen in entlegenste Regionen mitgeführt, von Südamerika bis Sibirien. Schon vor Ort wurde eine grobe Systematisierung unternommen.

D.h. der erste Aspekt der Ordnung ist einer der Rahmung. Kategorien brauchen Rahmen: Wenn sie diese nicht haben, können sie nicht aufrechterhalten bleiben. Wissenschaftler können sie zwar schriftlich niederlegen, aber nicht sinnfällig machen. Und dieses für-die-Sinne-Aufbereiten ist für den Forschungsprozess im 18. Jahrhundert ein ganz wichtiger Schritt, den sie auch heute noch finden. Der Schrank spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Ein weiterer Punkt ...?

... betrifft die Bestimmung des Raums. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögl hat ihn als etwas charakterisiert, in dem wir das Nebeneinander des Disparaten wahrnehmen und so ständig Unterschiede bestimmen. Der Schrank nimmt so eine Differenzbestimmung vor: Wenn wir uns etwa auf einer Forschungsreise befinden, schafft er innerhalb der Landschaft einen ersten Rahmen und Raum.

Aber dieser Raum weist schon eine Binnendifferenzierung auf, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es wieder ein Nebeneinander gibt. D.h. der Schrank ist eine Art Filter, der uns aber gleichzeitig den kreativen Prozess des Nebeneinander-Sehens gewährleistet. Hier haben wir seine Janusköpfigkeit: einerseits die Rahmung, die ganz klar zwischen Innen und Außen trennt und auch eine Auswahl trifft, andererseits der Aufbau eines Binnenraums, der wieder ein Nebeneinander bietet.
Welche zwei Welten werden hier getrennt?

Das kann man mit mehreren Kategorien fassen, etwa mit Öffnen und Schließen. Ein Schrank kann von außen zugesperrt werden, er kann Expertenwissen etablieren, er kann bestimmte Dinge wegschließen, sodass sie nicht zugänglich sind. Er verdichtet außerdem Prozesse, indem Objekte näher zueinander gerückt werden, als sie in der Außenwelt tatsächlich zu finden sind.
Welche Rolle spielt der Schrank für die konkrete Arbeit von Wissenschaftlern - etwa für Leibniz, den Sie in Ihrem Vortrag erwähnt haben?

Leibniz hat einen Exzerpierschrank verwendet, eine Art frühes Karteisystem. Ziel war und ist es, Zitate und Bruchstücke von Wissen zu ordnen. Leibniz' Schrank ist ein klassisches Ordnungsmöbel. Dazu gibt es noch Zeige- und Repräsentationsmöbel sowie Möbel, die unter Strom stehen: Sie spielen im Labor eine große Rolle, weil sie nicht nur zwischen Innen und Außen unterscheiden, sondern auch konservierende Funktion haben - etwa Schüttel- und Kühlschränke.

Die entscheidende Kategorien von Schränken für die Wissenschaft lauten: innere Ordnung und Transparenz. Die Transparenz eines Zeigemöbels etwa gibt es im Museum, aber auch in der Lehre. Klassifikatorische Aufbauten wie die Ordnung eines Mineralsystems sollen Studierenden auf einen Blick vermittelt werden. Kategorien von Arten und Gattungen entsprechen der Ordnung im Schrank.
Führt eine direkte Linie vom Leibniz'schen Exzerptkasten zu Luhmanns Zettelkastensystem?

Ganz direkt nicht, aber es gibt so etwas wie eine historische Tiefe. Die Zettelsysteme von Niklas Luhmann oder auch von Hans Blumenberg sind zwar anders aufgebaut als jene von Leibniz. Entscheidend ist aber bei allen dreien, ein festes Ordnungssystem zu etablieren, das zugleich Flexibilität ermöglicht: Wenn ich es nach meinem System rotieren lasse, Zettel herausnehme und diese auf einer Fläche anordne, können sie wieder einen neuen Sinnzusammenhang ergeben. Ordnungssysteme im Schrank sind einerseits geschlossene Welten, andererseits lassen sie es zu, dass sich Bruchstücke des Wissens - etwa Zitate - auf den Tisch gelegt neu zueinander ordnen.

So haben Luhmann und Blumenberg gearbeitet, und auch Leibniz. Karteikasten und Exzerpierschrank brauchen die flache Ebene des Tisches, ohne die sie nicht funktionieren würden und keinen neuen Sinn generieren könnten. Damit bin ich dann eigentlich auch schon im Informationszeitalter.
Sitzen wir in dieser Epoche mittlerweile alle in einem digitalen Kasten, wie das manche postmoderne Theoretiker behaupten?

Ich bin vorsichtig, das vorschnell mit Ja zu beantworten. Wenn Sie etwa die Geschichte des Exzerpts untersuchen, merken Sie, dass 500 oder 600 Jahre alte Techniken neben den neuen weiterbestehen, immer noch parallel funktionieren. Wir nehmen noch immer handschriftliche Notizen vor, ordnen sie, gleichzeitig arbeiten wir auf dem Laptop, haben vielleicht auch noch Karteikästen.

Wie machen Sie es selbst?

Ich lebe in beiden Welten, natürlich habe ich meine Literaturdatei mit Exzerpten, die ich nur noch elektronisch abspeichere, aber sobald ich an Texten oder einer Lehrveranstaltung arbeite, geschieht dies auf Papier.
Wenn Sie über die Bedeutung des Schrankes in Österreich sprechen, wissen Sie, dass er hierzulande eigentlich Kasten heißt?

Nicht unbedingt. Aber jetzt, wo Sie sich mich daran erinnern (lacht). Im Grunde spreche ich über beides. Kasten bedeutet im Deutschen ja Truhe oder Kiste. Und mit der hat historisch alles begonnen. Die Truhe war im Mittelalter jenes Möbel, in das man alles hineingetan hat. Um das zu erreichen, was Andy Warhol einmal so ausgedrückt hat: "Damit ich die Dinge nicht mehr ansehen muss, denn sonst werde ich noch verrückt." Das war im Mittelalter vermutlich nicht anders als heute.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 18.3.09
->   Anke te Heesen, Universität Tübingen
->   Marcel Prawy: Der Herr Professor vom "Hotel Sackerl" (Zeit)
->   Niklas Luhmann erklärt den Zettelkasten (YouTube)
->   Buch von te Heesen: Der Schrank in den Wissenschaften
->   Buch von te Heesen: The World in a Box (University Chicago Press)
 
 
 
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01.01.2010