News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Wissenschaft unter Zeitdruck
Studie über Forscher als "Risikokapitalisten"
 
  Der schrullige alte Herr mit Bart, der leicht verwirrt und stundenlang im Labor steht: Dieses Bild ist von gestern. Die Gegenwart der Wissenschaft gehorcht wirtschaftlichen Imperativen: Zeit ist nunmehr eine Ressource, die gut gemanagt sein will. Die immer schärfere Konkurrenz um Karrieren in der Forschung hat eine Beschleunigung mit sich gebracht, die die Wissenschaft verändert. Im Zuge der Veranstaltungsreihe "Wissenschaft im Wandel" thematisieren Wissenschaftsforscher die Auswirkungen dieser Entwicklungen.  
"Im Wettlauf mit der Zeit" - was wie der Titel eines Hollywood-Actionfilms klingt, spiegelt den Alltag der meisten Wissenschaftler wider. Besonders im Feld der Lebenswissenschaften lautet das Motto: Nur wer möglichst schnell und möglichst viel Output vorweisen kann, hat im Rennen um die vordersten Plätze im Ranking der internationalen Top-Forscher eine reale Chance. Dabei dreht es sich schon lange nicht mehr nur um die reine Produktion von Wissen und Innovation.

Mindestens ebenso gefordert sind die richtigen Karriereschritte zur rechten Zeit, eine rasche und strategisch kluge Etablierung am "Wissenschaftsmarkt" und die permanente Präsenz am Publikationshimmel. Begleitet werden diese Prozesse durch den Druck, die eigene Arbeit innerhalb der eigenen Institution ebenso wie in der Öffentlichkeit legitimieren zu müssen. Ebenso fordert die steigende Konkurrenz höchste Qualität und Exzellenz, um international bestehen zu können - und als Kehrseite der Medaille eine Anpassung an den Mainstream.
Investition in Karriere
Wie sehr sich diese neue Art des akademischen Handelns bereits im Wissenschaftssystem etabliert hat, belegen die Ergebnisse der ELSA-Studie "Living Changes in Life Sciences": Die Erzählungen von rund 50 Forscherinnen und Forschern aus Österreich - vom Dissertanten bis zum Senior Scientist - machen deutlich, dass sich die Wissenschaftler mit zunehmender Erfahrung und höherer Position in der "scientific community" immer stärker als "Risikokapitalisten" sehen. Jede Leistung ist Teil eines Investments in die eigene Karriere ebenso wie in die Forschungsarbeit.

"Ziel des Forschers als 'wissenschaftlicher Unternehmer' ist es, diesen Kreislauf der Anerkennung jeweils möglichst profitabel zu gestalten", fasst die Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt den Inhalt vieler Interviews zusammen. "Dies bedeutet, aus einem möglichst effizienten Einsatz von eigenen Zeit- und anderen materiellen Ressourcen möglichst hohen 'Profit' im Sinne des Erreichens wertgeschätzter Ergebnisse zu schlagen."
...
Die Studie
Wie beeinflussen sich Gesellschaft und (Lebens)Wissenschaften? Unter dem Titel "Living Changes in the Life Sciences" hat sich ein Team vom Institut für Wissenschaftsforschung unter der Projektleitung von Ulrike Felt in einer ELSA-Studie im Rahmen des GEN-AU Genomforschungsprogramms dieser Frage gewidmet und die Veränderungen in Forschungskultur und Wissensproduktion an Hand ethischer, legaler/rechtlicher und sozialer Aspekte (ELSA) erörtert.

Auf Basis von rund 50 qualitativen Interviews mit Forschern in ganz Österreich, intensiver Feldforschung im Wissenschaftsbetrieb selbst und eingehender Medien- und Politikfeldanalyse hinterfragt das Team (U. Felt, J. Allgaier, M. Fochler, R. Müller), in welcher Weise "Gesellschaft" in den Wissenschaften präsent ist.
->   Mehr zur Studie
...
Strategie und Struktur
Die aktuelle Entwicklung ist das Ergebnis eines tief greifenden gesellschaftspolitischen Wandels, der sich in den letzten 15 Jahren vollzogen hat. Seit Anfang der 1990er Jahre rücken Wissenschaft und Forschung - insbesondere Innovation - immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses der heimischen Politik. Gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen werden zusehends miteinander verknüpft.

Spätestens mit dem "Grünbuch zur österreichischen Forschungspolitik" im Jahr 1999 positionierte auch Österreich Wissenschaft und Technik klar als "Hilfsmittel zur Lösung von gesellschaftlichen Herausforderungen", als "Grundlage des wirtschaftlichen Wettbewerbs", die "durch gezielte Forschungs- und Technologiepolitik gefördert und erweitert werden" muss.

Forschungseinrichtungen mussten mehr Profil entwickeln, die Output-Orientierung wurde erhöht und die Wissenschaft hatte sich weitaus mehr der Öffentlichkeit geöffnet - nicht zuletzt, um Forschung gesellschaftlich mehr zu legitimieren.
...
Veranstaltung "Wissenschaft im Wandel"
"Wissenschaft im Wandel. Alte und neue Konturen des Lebens und Arbeitens in den (Lebens)Wissenschaften" nennt sich die vierteilige Veranstaltungsreihe des Wiener Instituts für Wissenschaftsforschung im Rahmen der Veranstaltungsreihe Konturen - Standpunkte zur öffentlichen Repräsentation von Wissenschaftler/Innen und in Kooperation mit der Ö1 Wissenschaft. Wenn die Überholspur zur Normalität wird: Zeit im Leben und Arbeiten in der Wissenschaft heißt der zweite Teil, der sich dem Faktor "Zeit" in der Wissenschaft widmet. Freitag, 3. April 2009, 19:30 Uhr im Böckelsaal der TU Wien (Karlsplatz 13, 1040 Wien).
->   "Wissenschaft im Wandel"
...
Zeit - knappe Ressource
Auch für die Wissenschaftler selbst ändern sich die Rahmenbedingungen ihres Handelns massiv. "Exzellenz im Sinne eines hohen Publikationsoutputs ist schon früh in der Karriere gefragt", so Maximilian Fochler, Mitarbeiter des ELSA-Projekts. "Schließlich ist es ein wesentliches Kriterium der Förderpolitik." Es verschärft sich der Druck, höchste Qualität in immer kürzerer Zeit zu liefern, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Auch sind Forscher gezwungen, im Rahmen der regelmäßigen Evaluierungen ihre Arbeit und Leistung überprüfbar zu machen.

Wissenschaftskarriere und Forschung werden also zusehends kalkuliert. Das verlangt nach einem perfekten Timing. Ganz im Gegenteil zum gesellschaftlich geprägten Bild vom "Wissenschaftler" als schrulliger Professor im weißen Kittel, der tagein, tagaus "völlig zeitlos" nur über seinen Experimenten und Büchern brütet, führen die Forscher einen ständigen Kampf mit und gegen die Zeit, in der sie zielgerichtet klar definierte Outputs in der Wissensproduktion verfolgen.
Nachdenken als Luxus
"Zeit, in Ruhe nachzudenken, wird von den Wissenschaftlern heutzutage oft als Luxus beschrieben", führt Ulrike Felt aus. "Diese Aussage spiegelt die massiven Veränderungen in der wissenschaftlichen Praxis wider. Dabei ist die sogenannte 'zeitlose Zeit', die nicht schon einem direkten Output gewidmet ist, eine wertvolle, nahezu unabdingbare Voraussetzung für einen nachhaltigen Innovationsprozess."

Immer knapper wird auch die Zeit, in der man ununterbrochen und am Stück an einer Tätigkeit arbeiten kann. "Die akademische Arbeit wird durch neue Tätigkeitsfelder wie Managementaufgaben, Öffentlichkeitsaufgaben und ähnliches zersplittert", schildert Fochler. "Diese Entwicklung empfinden viele Wissenschaftler als unproduktiv. Im schlimmsten Fall könnte diese Zerklüftung der Zeit sogar die erhoffte Effizienzsteigerung genau ins Gegenteil verkehren."
Spannungsfeld von eigener, gemeinsamer und freier Zeit
Die ELSA-Studie zeigt aber auch: Wissenschaftler spüren eine Spannung zwischen der eigenen und gemeinsamen Zeit. "Zwar ist ein Weiterkommen im Wissenschaftssystem eng an die individuelle Leistung geknüpft", so Felt. "Zugleich werden aber auch Kooperation, Teamarbeit und Vernetzung zum Ideal der Forschung hochstilisiert und massiv eingefordert." Aber wie rechnet man kollektive, systemerhaltende Arbeit ins persönliche Exzellenz-Portfolio ein?

Ebenso machen die Interviews deutlich: Es ist zwar theoretisch möglich, zwischen der Privat- und der Arbeitszeit eine klare Grenze zu ziehen. "Doch die Forscher haben häufig geäußert, dass Familie, soziales Leben und eine Karriere in der Wissenschaft für sie schwer vereinbar erscheinen", so Fochler. "Einerseits will man ein 'guter Wissenschaftler' sein, für den die aufgewendete Zeit in der Arbeit auf Grund seiner 'Berufung' keine Rolle spielt. Andererseits liegt für viele Lebenswissenschaftler die als gefordert angesehene '80-Stunden-Woche' jenseits des Möglichen und Wünschenswerten."
Lebens- und Wettlauf
Der Faktor Zeit zieht sich durch die persönliche Karriere eines Forschers. Heute gilt das Motto: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben - egal, ob es sich um die Verspätung im Studium, in der akademischen Selbstständigkeit oder in der Produktion von Publikationen handelt. "Der Lebenslauf der Wissenschaftler ist wie ein Marathonlauf", resümiert Felt. "Man weiß nicht, wo man im Teilnehmerfeld gerade steht, wer die Konkurrenz ist und wann man wie viel an Energie investieren muss, um vorne mit dabei zu sein."

Welche Folgen diese "Beschleunigung" der Wissenschaft mit sich bringt, wird sich in den nächsten Jahren noch deutlicher zeigen. Klar ist auf jeden Fall, dass die wissenschaftlichen Betrugsskandale wie der jüngste Fall um den US-amerikanischen Schmerzforscher Scott Reuben, der mindestens 21 Studien gefälscht hat, unter anderem ein Resultat des wachsenden Zeitdrucks sind. Was im Alltag bereits zum abgedroschenen Stehsatz geworden ist, mag im Wissenschaftssystem demnächst zur Prämisse werden: "Bitte entschleunigen!"

Eva-Maria Gruber, science.ORF.at, 31.3.09
->   Institut für Wissenschaftsforschung:
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Von der Berufung zum Beruf
->   US-Mediziner fälschte Dutzende Studien
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010