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Wir sehen, was wir fühlen  
  Forscher aus den USA und Frankreich haben eine überraschende Verbindung zwischen zwei Sinneskanälen entdeckt: Wie wir Dinge sehen, wird zu einem gewissen Grad auch dadurch bestimmt, wie sie sich anfühlen - und umgekehrt.  
Wasserfälle und andere Illusionen
Schon Aristoteles wunderte sich in seiner kleinen Schrift "Parva Naturalia" darüber, wie leicht sich unser Wahrnehmungsapparat täuschen lässt - etwa beim Betrachten eines Wasserfalles: Wer längere Zeit die Augen auf das fließende Wasser richtet und dann den Blick einem ruhenden Objekt zuwendet, z.B. einem Stein, für den beginnt sich der Stein plötzlich entgegen der Flussrichtung zu bewegen.

"Wasserfall-Illusion" heißt das Phänomen in der psychologischen Literatur, von der es auch jede Menge animierte Versionen im Internet zu sehen gibt. Der deutsche Mediziner und Wahrnehmungspsychologe Michael Bach hat beispielsweise zwei schöne Varianten dieser Täuschung ins Netz gestellt (hier und hier), die den Effekt noch drastischer vor Augen führen, als es vermutlich der echte Wasserfall zu tun vermag.
Bewegung färbt ab
Doch obwohl die Wasserfall-Illusion schon mehr als 2.000 Jahre bekannt ist, ganz verstanden hat man sie bislang noch nicht, wie eine Studie im Fachblatt "Current Biology" (Bd. 19, S. 1) zeigt. "Wir habe entdeckt, dass das Gehirn für die Verarbeitung von gesehener und gefühlter Bewegung überlappende Netzwerke verwendet", sagt Christopher Moore vom Massachusetts Institute of Technology. "Die Art und Weise, wie etwas aussieht oder sich anfühlt, kann durch einen Reiz der jeweils anderen Sinnesmodalität beeinflusst werden."

Moore und seine Mitarbeiter setzten in ihrer Studie acht Probanden vor einen Bildschirm und präsentierten ihnen Muster horizontaler Linien, die sich stetig nach oben oder unten bewegten. Danach mussten die Probanden ihre rechte Zeigefingerspitze auf einen "Taktil-Stimulator", ein kleines Nagelbrett mit 60 vibrierenden Stacheln, legen.

Die Fortsätze vollzogen keinerlei gerichtete Bewegung, aber alle acht Probanden hatten den Eindruck, das sei der Fall: offenbar eine taktile Wasserfall-Illusion, bei der der Elan bewegter Bilder auf den Tastsinn abfärbt, woraufhin dieser in die Gegenrichtung "marschiert" (Online-Demos des Versuchs gibt es hier).
Tasten prägt Sehen
Bemerkenswert ist, dass das Ganze offenbar auch andersrum funktioniert: Ließen die Forscher horizontale Vibrationswellen durch das Nagelbrett laufen und die Probanden hernach ein statisches Linienmuster betrachten, wanderten die tatsächlich unbewegten Linien durch deren Gesichtsfeld. Das widerspricht der alten Annahme, dass der Sehsinn dem Tastsinn irgendwie überlegen sei und im Zweifelsfall die verlässlichere Information liefern würde. Wir mögen zwar Augentiere sein, doch das Atout hat auch das visuelle System nicht gepachtet, wie es scheint.
Kalibrieren statt Ermüden
Anlass zum Umdenken gibt auch die theoretische Erklärung des "Motion After Effect". Talia Konkle, die Erstautorin der Studie, sagt: "Früher hat man geglaubt, Nacheffekte wie dieser würden durch die Ermüdung der Nervenzellen entstehen. Aber wir wissen jetzt, dass sie kontinuierlich Bewegungsinformationen einholen und das Gehirn mit der Sinneswelt abgleichen. Unsere Neuronen sind nicht müde, sie passen sich nur dauernd an unsere Umwelt an."

Wo im Hirn die Illusion entsteht, ist zwar noch nicht bekannt, doch Moore und Konkle haben zumindest eine Vermutung. Bisherige Studien haben nämlich gezeigt, dass verschiedene Formen der Bewegung in einem Areal namens "V5" bzw. "MT" im visuellen Cortex zusammenkommen. Hier gilt ein Prinzip, das man - auf höherer Ebene - auch als Devise der Bewusstseinsforschung kennt. "Wir erleben die Welt nicht durch isolierte Sinneskanäle", sagt Moore: "Wahrnehmen ist eine Unterhaltung zwischen den Sinnen."

Robert Czepel, science.ORF.at, 10.4.09
->   Moore Lab - MIT
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->   Optische Täuschung - Wikipedia
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01.01.2010