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Egoisten stellen sich tot  
  Viele Reptilien, Säugetiere und Insekten stellen sich tot, wenn ein besonders gefährlicher Feind naht. Japanische Biologen haben herausgefunden: Die Exit-Strategie funktioniert zwar, aber sie geht auf Kosten der Verwandtschaft - meist muss sie anstatt des Scheintoten ins Gras beißen.  
Bühnenblut für die Natter
Gäbe es einen Preis für die beste Schauspielleistung im Tierreich, die Ringelnatter hätte gute Chancen ihn zu gewinnen: Wird sie von einem übermächtigen Gegner bedroht, dreht sich die Schlange auf den Rücken und spielt totes Tier, liegt regungslos mit erschlafften Muskeln auf dem Boden.

Um Zweifel an der Echtheit des Gebotenen zu zerstreuen, lässt sie auch gerne die Zunge heraushängen. Und bei ganz schwierigen Fällen hat sie noch eine dramaturgische Geheimwaffe parat: mit Blut vermischter Speichel, der aus dem starren Mundwinkel tropft.
Fünf Hypothesen
 
Bild: Takahisa Miyatake

Auch wenn andere ihre Agonie nicht ganz so effektvoll vortäuschen, so ist das Sich-Totstellen im Tierreich doch sehr verbreitet. Dementsprechend gibt es eine ganze Reihe von Namen für dieses eigentümliche Verhalten. Mythologisch versierte Biologen nennen es Thanatose, andere sprechen von Akinesis, häufig wird es auch einfach Schreckstarre genannt. Ähnlich vielfältig wie die Terminologie sind auch die Antworten auf folgende Frage: Warum sollte das eigentlich Feinde davon abhalten, einen zu fressen?

Im Prinzip gibt es fünf Hypothesen dazu. Erstens: Tote Tiere machen krank. Zweitens: Bewegungslosigkeit ermöglicht Tarnung. Drittens: Starre Beine sind schwieriger zu schlucken (mit dieser Strategie vermeiden etwa Grashüpfer, dass sie von Fröschen gefressen werden). Viertens: Viele Jäger reagieren auf Bewegungen, daher verlieren sie an starren Tieren das Interesse oder nehmen sie überhaupt nicht mehr wahr. Und schließlich fünftens: Die Starre könnte auch ein Signal für Giftigkeit oder zumindest Ungenießbarkeit sein.

Ob die angebotenen Erklärungen wirklich zutreffen, muss freilich im Einzelfall durch das Experiment geklärt werden. Dem japanischen Biologen Takahisa Miyatake etwa war es ein Anliegen, das durchaus versierte Schauspiel des Rotbraunen Reismehlkäfers einer entsprechenden Prüfung zu unterziehen.

Dieser mimt die Insektenleiche durch Einsatz von Rückenlage, gekrümmter Extremitäten und schiefer Kopfhaltung (Bild oben), was bislang durch Hypothesen Nummer vier und fünf erklärt wurde, sprich: "Räuber verliert Interesse" und/oder "Chemischer Alarm".
Falsifizierung mit Reismehlkäfern
 
Bild: Takahisa Miyatake

Doch wie Miyatake nun in den "Proceedings oft he Royal Society B" (doi:10.1098/rspb.2009.0558) berichtet, dürfte letzteres in diesem Fall nicht stimmen. Zwar stellen die Reismehlkäfer eine Substanz namens "Methylbenzoquinon" (MBQ) her, die sie im Bedarfsfall als chemischen Kampfstoff einsetzen, aber offenbar ist das ihrem Hauptfeind, der Gewächshaus-Springspinne (Bild oben), völlig egal. Miyatake hat nämlich giftige und weniger giftige Züchtungen des Reismehlkäfers ins Duell mit der Spinne geschickt, die jeweilige Bewaffnung mit MBQ hatte allerdings keinen Einfluss auf dessen Ausgang.

Sehr wohl einen Unterschied macht es hingegen, ob ein Käfer lange oder nur kurz scheintot bleibt. Züchtungen mit entsprechender Ausdauer haben den Versuchen zufolge eine deutlich höhere Überlebenschance als ungeduldige Artgenossen, die das Schauspiel nach kurzer Zeit abbrechen. Besonders drastisch fiel der direkte Paarvergleich aus: Hatte die Spinne die Wahl zwischen einem starren und einem weniger starren Käfer, fraß sie in 100 Prozent der Fälle letzteren.
Wer sich bewegt, hat verloren
Das weist auf einen Aspekt hin, der in der einschlägigen Diskussion über die Thanatose bisher übersehen wurde. Sie funktioniert offenbar besonders gut, wenn Artgenossen in der Nähe sind. So harmlos das Verhalten auch scheinen mag, es ist zutiefst egoistisch, da es häufig zu Lasten der unmittelbaren Nachbarn und Verwandten geht, schreiben Miyatake und seine Kollegen. Das könnte jedenfalls erklären, warum die Schreckstarre besonders häufig in gruppenlebenden Arten auftritt.

Robert Czepel, science.ORF.at, 29.4.09
->   Takahisa Miyatake
->   Rotbrauner Reismehlkäfer
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01.01.2010