News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Das Gehirn besitzt ein "orthografisches Lexikon"  
  Beim Lesenlernen müssen sich Kinder zu Beginn mühsam von Buchstabe zu Buchstabe hangeln, die Bedeutung erschließt sich oft erst im Nachhinein. Mit ausreichend Training verändert sich dieser Vorgang: Wörter werden als Ganzes erfasst, Lesen gelingt plötzlich wie von selbst.  
Wissenschaftler haben nun einen Beleg dafür gefunden, dass das Gehirn tatsächlich so etwas wie ein "orthografisches Lexikon" besitzt. Gruppen von Neuronen entsprechen dabei bekannten geschriebenen Wörtern und erleichtern uns so das schnelle Lesen.
...
Die Studie "Evidence for Highly Selective Neuronal Tuning to Whole Words in the "Visual Word Area" von Laurie S. Glezer et al. ist in der aktuellen Ausgabe von "Neuron" (30.April 2009, DOI: 10.1016/j.neuron.2009.03.017) erschienen.
->   Zum Abstract der Studie
...
Komplexe Kulturtechnik
Jedes Kind kann bei entsprechender Übung innerhalb relativ kurzer Zeit Lesen lernen. Dabei ist diese wichtige Kulturtechnik gar nicht so einfach und das Gehirn muss dafür einiges leisten: Zuallererst müssen die Reize, also die Buchstaben, optisch erfasst werden, erst danach erfolgt die eigentliche inhaltliche Verarbeitung, bei der die Bedeutung von Wörtern, Sätzen und ganzer Texte erfasst wird.

Neuere Studien zeigten, dass bereits die visuelle Verarbeitung in Stufen verläuft, nämlich von der mentalen Repräsentation einfacher Striche über Buchstaben bis zu Zeichenketten. Das Gehirn wird sozusagen auf immer komplexere Muster "trainiert". Manche Lesetheorien gehen sogar davon aus, dass auch ganze Worte neuronalen Korrelaten entsprechen.

Belege für eine lexikalische Repräsentation gab es bisher noch wenig. Es deutet aber einiges daraufhin, dass eine bestimmte Region im linken visuellen Kortex ein zentrale Rolle beim Lesen von Wörtern spielt: die "Visual Word Form Area" (VWFA).
Eine Neuronen-Gruppe pro Wort
In einer experimentellen Studie wollten die Forscher rund um Laurie Glezer vom Georgetown University Medical Center nun neue Belege für die mentale Repräsentation von Wörtern sammeln, die in genau diesem Teil des Gehirns angesiedelt sein soll. Dafür mussten die Teilnehmer verschiedene Leseaufgaben durchführen, während ihre Aktivität im VWFA-Areal mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) aufgezeichnet wurde.

In einer Anordnung erhielten die Testpersonen Wortpaare zum Lesen, die sich lediglich in einem Buchstaben unterscheiden, wie etwa "Hund" und "Mund". "Das neuronale Aktivitätsmuster sieht dabei so aus, als würden sie zwei lautlich völlig verschiedene Wörter lesen, wie 'Mantel' und 'Fisch'", so Glezer. Laut den Forschern zeigt das, dass die Neuronen in dieser Region sehr selektiv auf einzelne Begriffe reagieren, denn obwohl die Paare fast aus denselben Buchstaben bestehen, gab es keinerlei Überlappung der aktiven Bereiche.
Bedeutungslose Zeichenketten werden anders erfasst
In einem weiteren Schritt untersuchte das Team die Reaktion auf bedeutungslose Buchstabenketten. Auch dabei mussten die Teilnehmer bis auf einen Buchstaben identische Paare lesen, wie "pruz" und "fruz".

In diesem Fall zeigten die Muster deutlich mehr Überschneidungen, was laut den Forschern dafür spricht, dass die visuelle Verarbeitung in diesem Fall über die einzelnen Buchstaben erfolgt.
Mentales Lexikon
Für die Forscher eine klarer Beleg für die Existenz eines mentalen Lexikons - ein Begriff, den man auch aus der theoretischen Linguistik kennt. Dabei geht man davon aus, dass Wörter und deren Bedeutung als assoziativ vernetzte neuronale Einheiten in unserem Gehirn abgespeichert sind.

Zumindest auf der Ebene der visuellen Verarbeitung ist die aktuelle Studie ein biologischer Beleg dafür, dass es tatsächlich so etwas wie mentale "Lexikoneinträge" gibt, die sich das Gehirn merkt. Das Lesetempo wird durch diese gelernten Einheiten enorm beschleunigt.

Auch konkrete Anwendungen sind laut den Forschern auf Basis der neuen Erkenntnisse denkbar, etwa beim Erkennen oder bei der Therapie von Lesestörungen.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 30.4.09
->   The Laboratory for Computational Cognitive Neuroscience
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Kinder: Durch Gesten sprechen lernen (13.12.09)
->   Gesichtsausdruck beeinflusst Sprachwahrnehmung (20.1.09)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010