News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Warum der "kalte" Entzug so qualvoll ist  
  Dass der Heroin-Entzug Qualen verursacht, ist nicht zuletzt durch die Romane von William S. Burroughs bekannt. Nicht klar war bis vor kurzem, warum das Absetzen von Opiaten so starke Schmerzen hervorruft. Wiener Forscher haben nun die Ursache entdeckt.  
Entzug mit Nebenwirkungen
Wie ein Team um den Wiener Hirnforscher Jürgen Sandkühler im Fachblatt "Science" (Bd. 325, S. 207) berichtet, führt der abrupte Entzug von Morphinen zu einer Langzeitpotenzierung der Erregungsübertragung im Rückenmark - und somit zur Schmerzverstärkung. Dieser Vorgang ähnelt der Entstehung des sogenannten "Schmerzgedächtnisses".

Opioide werden wegen ihrer hohen Wirksamkeit und relativ guten Verträglichkeit weltweit bei Millionen von Patienten mit starken Schmerzen eingesetzt. Sandkühler: "Das Problem liegt aber darin, dass beim schnellen Absetzen - zum Beispiel nach Operationen - erneut starke Schmerzen auftreten können. Es kommt zu einer vermehrten Schmerzempfindlichkeit am ganzen Körper." Erst recht gilt das für Personen, die solche Substanzen mehrere Monate oder länger eingenommen haben, wie etwa Drogensüchtige.
Künstlicher Verstärker in Synapsen
Sandkühler und seine Kollegen führten Experimente an Präparaten von Rückenmarkszellen in der Petrischale sowie an Ratten in tiefer Narkose durch. Beide Versuche zeigen: Die Langzeitpotenzierung der Schmerzsignale hat mit den Kontaktstellen von Nervenzellen zu tun, den sogenannten Synapsen.

Die Ursache dafür ist offenbar ein Anstieg der Konzentration von Kalziumionen in Rückenmarkszellen. Sandkühler: "Dadurch kommt es im Endeffekt zu einer Potenzierung der Übertragungsstärke jener Signale, die von den Schmerzrezeptoren zu den Rückenmarkszellen verlaufen."
Argument für Substitutionstherapie
 
Bild: dpa/A3446 Patrick Seeger

Dagegen kann man etwas unternehmen. Entsprechende Strategien haben die Wissenschaftler ebenfalls getestet. "Einerseits kann man Opioide langsam 'ausschleichen'. Die Dosis wird dabei ständig reduziert. Das verhindert die Entzugsschmerzen", sagt Sandkühler.

"Man kann aber auch durch Anwendung bestimmter Substanzen die Entzugsschmerzen selbst dämpfen. So lässt sich die Signalverstärkung im Rückenmark durch Medikamente hemmen, die sogenannten NMDA-Rezeptorkanäle blockieren." Dazu gehören beispielsweise das Anästhetikum Ketamin oder das Alzheimer-Medikament Memantin.

Die Studie der Wiener Forscher liefert ein weiteres Argument gegen den "kalten" Entzug bei Opiatsucht und stützt hingegen den Ansatz der Substitutionstherapie. Im Rahmen letzterer erhalten Abhängige zunächst Ersatzdrogen. Deren Dosis wird dann schrittweise reduziert, bis sich die Patienten auch sozial und gesundheitlich stabilisiert haben.

[science.ORF.at/APA, 9.7.09]
->   Jürgen Sandkühler
->   Langzeit-Potenzierung - Wikipedia
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Astronauten-Krankheit: "Weltraum-Kopfschmerz"
->   Geld lindert Stress und Schmerzen
->   Akupunktur hilft bei Rückenschmerzen
->   Schmerzgen reguliert das Gedächtnis
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010