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Alzheimer: "Schlechte" Gene machen nicht ängstlicher  
  Wollen wir Menschen wirklich in die Zukunft schauen? Die moderne Medizin verspricht das zumindest teilweise, wenn sie Gentests anbietet, die Risikofaktoren für bestimmte Krankheiten bestimmen. Da sich negative Testergebnisse schlecht auf die Psyche und somit auch krankheitsfördernd auswirken können, sind derartige Tests zumindest umstritten.  
Dass "schlechte" Gene nicht unbedingt ängstlicher machen, berichten nun US-Mediziner. Sie haben Personen nach Alzheimer-Risikofaktoren untersucht, ihnen die - positiven wie negativen - Resultate mitgeteilt und dann die Reaktionen verfolgt.
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Die Studie "Disclosure of APOE Genotype for Risk of Alzheimer's Disease" ist am 16.7. im "New England Journal of Medicine" (Bd. 361, S.245) erschienen.
->   Abstract der Studie
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ApoE4: Eine besondere Genvariante
Morbus Alzheimer ist eine besonders "dankbare" Krankheit für medizinische Prognosen. Zum einen steigt die Zahl der Betroffenen dank der höheren Lebenserwartung in den Industrieländern weiter an. Zum anderen wird die Demenzerkrankung intensiv erforscht, eine Reihe von Risikofaktoren sind bekannt: Neben Lebensstil und Umwelt sind das auch genetische.

Als wichtigster Risikofaktor gilt die Genvariante ApoE4. Sie wurde Anfang der 1990er Jahre entdeckt und produziert ein Protein, das stärker als andere an der Bildung von "Belägen" in den Gehirn-Nervenzellen beteiligt ist. Diese "Plaques" werden besonders bei Alzheimer-Patienten als Zeichen der Schädigung von Neuronen beobachtet.
Gentest bei einer von zwei Studiengruppen
Genau diese Genvariante stand nun auch im Mittelpunkt der Studie von Forschern um Robert Green von der Boston University. Sie wählten 162 Probanden aus, die über einen Verwandten mit Alzheimer verfügten - dies alleine erhöht nach Auskunft der Forscher das Risiko, selbst im Alter von 85 Jahren daran zu erkranken, um rund ein Drittel.

Bei allen Untersuchungsteilnehmern wurden Blutproben genommen, dann wurden sie in zwei Gruppen geteilt: Bei der einen führten die Mediziner einen Test auf das Vorhandensein des Gens ApoE4 durch, bei der anderen nicht. Alle Probanden erhielten medizinisch-psychologische Betreuung und wurden über prinzipielle Risikofaktoren für Alzheimer aufgeklärt.
Für Risikoträger kein Schaden entstanden
Im Abstand von sechs Wochen, sechs Monaten und einem Jahr wurden sämtliche Teilnehmer dann zu etwaig entstandenen Ängsten, Depressionen und anderen Stresssymptomen befragt.

Das Resultat: Jene Probanden, die von ihrem Genotyp erfuhren und dank ApoE4 ein höheres Risiko für Alzheimer hatten, fühlten sich nicht schlechter als jene, die nichts von ihrem genetischen Schicksal wussten. Umgekehrt war die Erleichterung bei den Teilnehmern, bei denen eine unschädliche Genvariante festgestellt wurde, scheinbar so groß, dass sie danach deutlich weniger ängstlich oder depressiv waren.

Für die Risikoträger habe sich kein psychologischer Schaden ergeben, für die anderen hingegen sogar ein Nutzen, schließen die Forscher.
Informationen nicht ohne Begleitung anbieten
Mit ihren Ergebnissen wollen sie aber kommerziellen Unternehmen wie 23andMe oder decodeme, die personalisierte Genprofile erstellen, keinen Freibrief ausstellen. Für ihre Studie hätten die Forscher ausschließlich Menschen ausgewählt, die emotional stabil sind. Zudem wurde der gesamte Prozess von genetischen Beratern begleitet, die Bedeutung und Grenzen der Testergebnisse darlegten.

"Es ist nicht das gleiche, Risikoinformationen einfach jedem zu geben, der danach fragt", meint Robert Green in Anspielung auf die wachsende Zahl kommerzieller Gentest-Anbieter. Dennoch hält er es für sinnvoll, Menschen auf diese Art und Weise die Wahrheit zu sagen.
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An der Boston University ist das Forschungsprojekt "Risk Evaluation and Education for Alzheimer's Disease" (Reveal) beheimatet, aus dem auch die Daten für die aktuelle Studie stammen.
->   Reveal
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Offene Fragen
Ein begleitendes Editorial im "New England Journal of Medicine" gibt sich vorsichtig. Zwar sei die Studie von Robert Green und Kollegen einer der seltenen Versuche seiner Art, der auch für ethische Richtlinien herangezogen werden könnte.

Dennoch habe die Arbeit einige Lücken - sie untersuchte zwar psychologische Konsequenzen der "genetischen Offenbarung", aber keine ökonomischen und sozialen. Auch der Untersuchungszeitraum von einem Jahr müsse in Betracht gestellt werden: Etwaige erste Symptome für Alzheimer würden erst viel später auftreten. Und was die Personen dann etwa mit Vergesslichkeiten machen, die auch ganz harmlose Gründe haben könnten, werde durch die Studie nicht beantwortet.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 16.7.09
->   23andMe
->   Decodeme
->   Alzheimer (Netdoktor)
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01.01.2010