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Empathie als flexibles Phänomen  
  Empathie ist eine wichtige Voraussetzung für soziales Verhalten. Der österreichische Psychologe Claus Lamm geht in einem Gastbeitrag der Frage nach, wie das Mitgefühl im Hirn entsteht - und wie uns diese Fähigkeit zu einem Gruppenwesen macht.  
Ich kann fühlen, was Du fühlst - wenn ich will
Von Claus Lamm

Der Mensch ist ein soziales Wesen - ein Individuum also, das nicht nur im intensiven Kontakt mit anderen Menschen lebt, sondern diesen geradezu benötigt. Um die dabei auftretenden Interaktionen zumindest ansatzweise reibungsfrei zu gestalten, sollten wir den Gefühlszustand unserer Mitmenschen adäquat wahrnehmen können.

Eine der Grundlagen dafür ist Empathie. Deren Relevanz zeigt sich insbesondere dann, wenn sie fehlt - etwa wenn zwei Menschen in einen Konflikt geraten, weil sie die Gefühlslage des/der anderen nicht richtig wahrnehmen können oder gar bewusst ausblenden.

Das gegenseitige Verständnis, das Wissen darum "wo der andere/die andere steht", kann daher als eine der Grundlagen für funktionierende soziale Interaktion bezeichnet werden.
Kein Vertrauen ohne Mitgefühl
Empathie und die Fähigkeit, sich in eine andere Person hineinversetzen zu können, spielt auch eine besondere Rolle für die Entstehung von Vertrauen. Je besser wir darin sind, uns die Gefühle und damit verbundenen Intentionen einer anderen Person zu erschliessen, desto besser werden wir auch die Frage beantworten können: "Soll ich dieser Person vertrauen?".

Abgesehen von den allgemeinen Vorteilen gut funktionierender sozialer Interaktion kann daher die Schulung der Fähigkeit, die Gefühle anderer nachzuempfinden, auch ganz konkrete Vorteile für eine/-n selbst bringen.

Doch was ist eigentlich Empathie? Was sind deren grundlegende Bausteine? Wodurch wird sie ausgelöst oder unterdrückt, und kann Empathie gar gezielt gefördert werden?
Suche nach der Quintessenz

Claus Lamm
Eine einheitliche wissenschaftliche Definition des Begriffs Empathie fehlt zwar. Weitgehende Einigkeit herrscht aber darüber, dass die Fähigkeit die Gefühle einer anderen Person zu empfinden einer der zentralen Aspekte von Empathie ist. Diese Nachempfinden muss allerdings nicht vollkommen sein, es genügt, dass zumindest Teile der Gefühlslage des/der anderen nachempfunden werden.

Dies äussert sich beispielsweise dann, wenn wir als Reaktion auf die Trauer unseres Gegenübers ebenso traurig sind, oder wenn dessen/deren gute Laune bei uns selbst ebenso Freude auslöst. Dieses "Mitgehen" mit den fremden Gefühlen ist allerdings abzugrenzen von etwaigen anderen, teilweise parallel mit der empathischen Antwort auftretenden Gefühlsregungen.

So können etwa zusätzlich Gefühle der Sorge oder sogar Angst um die trauernde Person auftreten - Gefühle also, die beim Gegenüber nicht vorhanden sind.
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Seminar beim Europäischen Forum Alpbach
Claus Lamm leitet gemeinsam mit Christoph Eisenegger Europäischen Forum Alpbach das Seminar "The biological foundations of trust and social decision making" (20.- 26. 8 2009). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Mehr zum Seminar
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Neue Disziplin: Soziale Neurowissenschaften
In den letzten Jahren haben die Neurowissenschaften bedeutende Beiträge zur Entschlüsselung des Phänomens Empathie geliefert. Dabei ist zu betonen, dass die gewonnenen Einsichten nur durch die verstärkte Zusammenarbeit mit Disziplinen wie etwa Psychologie, Physik, Mathematik, und Computerwissenschaften möglich wurden.

Die interdisziplinären Bemühungen, die Grundlagen menschlichen Sozialverhaltens zu entschlüsseln, resultierten sogar in der Gründung eines neuen Wissenschaftszweigs, den sogenannten Sozialen Neurowissenschaften.

Mit Hilfe von Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie oder der Elektroenzephalographie ergaben sich dabei Hinweise darauf, warum wir die Emotionen Anderer im Regelfall sehr unmittelbar nachempfinden können.
Gehirn: Gefühle schwingen mit
So zeigte sich wiederholt, dass beim Auftreten von Empathie jene Bereiche in unserem Gehirn aktiv sind, die auch dann aktiv sind, wenn wir die bei der anderen Person beobachteten Emotionen selbst empfinden (siehe Singer und Lamm, 2009, für einen Überblick).

Dies legt nahe, dass wir selbst zumindest ansatzweise in der Lage sein müssen, Trauer, Freude, oder Wut zu empfinden, um diese Emotionen auch bei Anderen nachempfinden zu können. Das unmittelbare Mitschwingen mit den Gefühlen des/der anderen ist teilweise sogar von außen beobachtbar - beispielsweise wenn das Weinen unseres Gegenübers bei uns selbst zu feuchten Augen oder sogar Tränen führt.
Das (falsche) Determinismus-Argument
Daneben zeigt aber auch eine Vielzahl an Untersuchungen, dass diese unmittelbare Antwort auf die Gefühle unserer Mitmenschen nicht immer zu einer voll ausgeprägten empathischen Reaktion führen muss. Alltagsbeispiele dafür gibt es zur Genüge, etwa wenn wir auf gegen uns gerichteten Ärger defensiv oder aggressiv reagieren, ohne dabei den Ärger des/der anderen selbst zu spüren.

Empathische Reaktionen können also durch verschiedene personenspezifische und situationsbedingte Faktoren sowohl gefördert als auch unterdrückt werden. Diese Feststellung ist insofern von Relevanz, als die Gehirnforschung im gesellschaftlichen Diskurs oft mit deterministischen Argumenten in Verbindung gebracht wird.

Unter Determinismus wird die Annahme verstanden, dass bestimmte Fähigkeiten und Verhaltensweisen nach feststehenden Regeln ablaufen und nicht verändert werden können.

So wird oft argumentiert, dass aufgrund der "fixen Verdrahtung" des Gehirns bestimmte Fertigkeiten wie etwa Intelligenz, aber auch unsere "Emotionalität" unverändert in uns angelegt sind. Dieses Argument ist insofern nicht treffend, als das Gehirn ein sehr form- und veränderbares Organ ist, das flexibel auf unterschiedliche Bedingungen reagieren kann. Diese Flexibilität und Kontrollierbarkeit ist auch im Bereich der Emotionen zu beobachten - und somit im Fall der Empathie.
"Die Welt durch deren Augen sehen"
Ein personenspezifischer Faktor, der darüber mitbestimmt, mit "wieviel" Empathie jemand auf seine Mitmenschen reagiert, ist etwa, wie gut man mit den durch das Gegenüber ausgelösten negativen Emotionen umgehen kann.

Dies erklärt, warum Personen in helfenden Berufen (wie etwa der Psychotherapie) durch entsprechendes Training in der Lage versetzt werden, auch sehr belastende Gefühle ihrer KlientInnen und PatientInnen nach wie vor adäquat nachempfinden zu können.

In anderen Fällen wiederum ist es so, dass die Emotionen der anderen Person gar nicht erst wahrgenommen werden. Hier zeigt sich, dass durch den bewussten Einsatz entsprechender Strategien die eigene empathische Antwort gezielt gefördert werden kann.

Ein Beispiel für eine solche Strategie ist die sogenannte Perspektivenübernahme. Damit wird der bewusste Versuch bezeichnet, sich in die Lage einer anderen Person hineinzuversetzen, und dadurch "die Welt durch deren Augen zu sehen".

Die damit erschlossene veränderte Sichtweise führt zu einer Aktivierung der damit verbundenen Gedanken und Emotionen und fördert das Verstehen des/der anderen. Ein Beispiel zur Förderung der Perspektivenübernahme sind die in international tätigen Unternehmen oft benötigten interkulturellen Seminare, in denen den Seminarteilnehmer und -innen anhand von Alltagsbeispielen die Art zu denken und zu fühlen von Personen aus anderen Kulturkreisen vermittelt wird.
Verlust der Abgrenzung erzeugt Stress
Perspektivenübernahme hat aber nicht immer positive Auswirkungen auf das Sozialverhalten. So konnte etwa gezeigt werden, dass eine zu starke Projektion in die andere Person zu einer Stress- oder Abwehrreaktion führen kann. Diese kann dann zum Rückzug aus der Situation und einem Mangel an Mitempfinden führen.

Dies bestätigt die bereits hinreichend aus psychologischen und inbesondere psychotherapeutischen Theorien bekannte Bedeutung der Fähigkeit, die eigenen Gefühle von jenen des Gegenübers abgrenzen zu können. Geht diese Abgrenzung verloren, kann es zu einer selbstbezogenen Reaktion kommen - im Gegensatz zu einer üblicherweise prosozialen (das heißt dem sozialen System förderlichen) Reaktion.

Beispiele dafür wären etwa unterlassene Hilfestellungen, aber auch Situationen, in denen wir uns selbst als nicht vertrauenswürdig einstufen würden und dieses Misstrauen dann fälschlicherweise auf den/die Interaktionspartner/-in übertragen.
Mitgefühl trainieren
Ein Fazit der Beschäftigung der Sozialen Neurowissenschaften mit dem Thema Empathie ist also, dass das adäquate Erkennen der Gefühlslage unserer Mitmenschen kein rein automatischer oder gar determinierter Prozess ist.

Die Einsicht, dass empathische Reaktionen so wie übrigens auch viele andere emotionale Reaktionen hochflexibel und kontrollierbar sind, wirft auch die Frage auf, inwiefern die Grundtendenz, empathisch und insbesondere prosozial auf andere zu reagieren, durch entsprechendes Geistes- und Verhaltenstraining gesteigert werden kann.

Dieser Frage wird derzeit in mehreren internationalen Forschungsprojekten nachgegangen. Dass dies erst jetzt geschieht, ist insofern erstaunlich, als der Mensch als das eingangs erwähnte Sozialwesen ein genuines Interesse an den Grundlagen und Mechanismen zur Förderung prosozialen Verhaltens haben müsste.

Das gesteigerte Forschungsinteresse könnte daher ein Indikator dafür sein, dass die bislang auf Wettbewerb und Erfolg des Individuums fokussierenden gesellschaftlichen Denk- und Verhaltensmodelle durch Modelle, die den Gemeinnnutzen in den Vordergrund stellen, ergänzt werden könnten.

[21.8.09]
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Über den Autor
Claus Lamm hat Psychologie an der Universität Wien studiert, Habilitation im Oktober 2005. Nach Forschungsaufenthalten in Frankreich und den USA beschäftigt er sich derzeit am Forschungsschwerpunkt "Grundlagen menschlichen Sozialverhaltens" der Universität Zürich mit den psychologischen und neuronalen Grundlagen von sozialen Prozessen, mit den Schwerpunktthemen Modulation von Empathie und prosozialem Verhalten.
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Weitere Beiträge zu den Seminaren des E-Forum Alpbach 2009:
->   Manfred Kienpointner: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
->   Florian Bieber: Vertrauen als Kriegsopfer
->   Wolfgang Dietrich: Entwicklungspolitik heute
->   Oliver Rathkolb: Vertrauen als politische Basis
->   Christoph Zielinski: Vertrauen in der Medizin
->   Udo Hebel: Nationen und ihre Erinnerungskulturen
->   Alexander Somek: Vertrauen im Recht
 
 
 
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01.01.2010