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Neue Bürgerlichkeit -Tragödie oder Farce?
Auf den Spuren eines Begriffs
 
  Seit einigen Jahren geistert ein Begriff durch die deutschen Medien - die "neue Bürgerlichkeit". Er beschreibt die Sehnsucht nach Werten und Idealen, einer politischen Mitte sowie einer kulturellen Aufgehobenheit. Der "neue Bürger" hat viele Gesichter: der coole Bobo in der Stadt, der alternativen Schick mit traditionellen Mustern verbindet; der neue Konservative, der sich für klassische Familienformen stark macht; oder der Intellektuelle, der für einen allgemeinen Bildungskanon und die Pflege alter Traditionen plädiert.  
Aber was eint diese unterschiedlichen Gruppen? Gibt es den "neuen Bürger" überhaupt? Ist er in Wahrheit der alte Spießer? Taugt er als Lebensschablone für das 21. Jahrhundert? Oder sind es bloß inhaltsleere Tugenden, die Gespenster der Vergangenheit in trivialisierter Form wiederauferstehen lassen? Handelt es sich letztlich um ein Kostümfest, eine reine Farce und die Wiederaufführung von Bürgerlichkeit, wie etwa der Soziologe Werner Plumpe meint?

Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich Plumpe und vier andere Autoren in einem Themenschwerpunkt der Zeitschrift "Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung" (1, 2009).
Was ist ein Bürger?
Um über den "neuen Bürger" sprechen zu können, bedarf es zuerst einer historischen Abklärung des Grundbegriffs. Und genau in dieser "Bürgersemantik", wie sie Cornelia Rauh in ihrem Beitrag bezeichnet, herrscht mitunter Uneinigkeit.

Der deutsche Soziologe Max Weber hat drei inhaltliche Bestimmungen unterschieden: Bürgertum könne erstens als eine Klasse im ökonomischen Sinn verstanden werden, zweitens im politischen Sinn - das entspricht dem modernen Staatsbürger, dieses Ideal reicht sogar bis in die Antike. Drittens könne der Begriff ganz heterogene Gruppen umschließen, die aber über ein ähnliches soziales Prestige verfügen.

Im Deutschen blieben alle drei Dimensionen in einem Begriff verbunden, anders wie etwa im Französischen, wo citoyen und bourgeois einen relativ klar abgegrenzten Sinngehalt haben, wie Max Hettling in seinem Beitrag ausführt. Diese Bedeutungsvielfalt sei mit eine Ursache der gegenwärtigen Renaissance.
Humanistisches Ideal
Das Ideal, das hinter der modernen Version des Bürgers steckt, wurzelt laut Rauh am Beginn des 19. Jahrhunderts. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums verband sich eine Hoffnung auf eine neue politische Ordnung, in der das Zusammenleben der Bürger auf Vernunft und geregelter Leistungskonkurrenz basiert - das sei auch die Grundlage der heutigen Marktwirtschaft. In dieser Utopie sollten auf lange Sicht alle zu gleichberechtigen Bürgern werden.

Der Mensch als Individuum wurde dabei aus der ständischen Ordnung herausgelöst und sah sich mit immer mehr Handlungsmöglichkeiten konfrontiert. Innerlich bedeutete das auch geänderte Rahmenbedingungen für die persönliche Identität. Dort liegt laut Hettling der Ursprung der modernen Individualität, in welcher der Mensch Teil unterschiedlicher Subsysteme sein kann, was einer ständigen Abstimmung, der Reflexion und der Selbstdeutung bedarf.
Irrealer Charakter eines Ideals
Historisch wurde der irreale Charakter dieses Bürgerideals laut Rauh aber schon bald sichtbar, nämlich schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das Bürgertum wurde selbst zur herrschenden Klasse, die sich durch soziale Exklusivität und wirtschaftliche Selbstständigkeit auszeichnete. An die Stelle liberaler Ideale trat die Aus- und Abgrenzung vor allem nach unten, gegen die stärker werdenden Arbeiter und Kleinbürger.

Nach dem Krieg hatte der Bürger seine Exklusivität verloren. Eine "fadenscheinige Gutbürgerlichkeit" klammerte sich an verlorene Ideale, so Rauh. Wohlfahrtsstaat, Wirtschaftswunder und Konsumgesellschaft machten aber die Bürgerlichkeit für alle erschwinglich. So entstand eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", ein Begriff, den Helmut Schelsky 1953 prägte.
Das Bürgertum als Zukunftskonzept?
Bereits die 68er-Generation teilte einiges mit frühliberalen Bürgeridealen - Stichwort Zivilgesellschaft. Dieser Geist stand auch Pate für spätere soziale Initiativen, wie die Friedens- und Umweltbewegung.

Noch essenzieller für den Wandel und das neue Erstarken bürgerlicher Lebensformen und -werte war laut Rauh die massive Bildungsexpansion in den 1970er Jahren, die vor allem den Frauen zu Gute kam. Das führte zu einem Wandel der Geschlechterrollen und der Familienstrukturen. Neue private Lebenswelten und eine hochindividualisierte Gesellschaft entstanden. Als Reaktion hätte dieser Umbruch im privaten Leben die Sehnsucht nach einer Wiederbelebung bürgerlicher Werte ausgelöst.
Wie soll man sein Leben leben?
Eigentlich geht es laut Hettling bei der Diskussion um die "neue Bürgerlichkeit" um altbekannte Herausforderungen. Sie könne fruchtbar sein, wenn nicht das reduzierte Bild einer Bürgerlichkeit als historisches Phänomen des 19. Jahrhunderts dominieren würde. Das heißt, wenn es nicht ausschließlich um soziale und kulturelle Reproduktion ginge.

Das Bürgermodell könnte einen Rahmen bieten, denn normativ sei es in seinen Inhalten nie gewesen. Es gehe vielmehr um die Art des Lebens. Die Menschen sehnen sich nun mal nach gesellschaftlicher und politischer Orientierung, nach mehr Verbindlichkeit in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Niemand bietet umfassende Deutungsangebote, weder rechts noch links.
Lob der Mittelmäßigkeit
Aber kann der Bürgerbegriff überhaupt eine adäquate Beschreibung der Gegenwart sein? Was haben etwa eine Ärztin, ein Ökobauer, eine Buchhändlerin und ein Sozialarbeiter gemeinsam - außer dass sie alle "Leistungsträger" sind? Und reicht dafür der Begriff der "Mitte"?

Dieser stehe allenfalls für die Sehnsucht nach Harmonie und die Ablehnung politischer Kampfbegriffe, enthalte aber kaum Potenzial, um die gesellschaftliche Dimension mit der persönlichen zu integrieren. Hans Magnus Enzensbergers "Lob der Mittelmäßigkeit" etwa gilt als Absage an politische Ideologien - was bleibt, so scheint es zumindest manchmal, ist die kleinbürgerliche Idylle.

Die soziale Mitte habe sich gegenüber früher vervielfacht, dabei ist eine immer breitere Pluralität an Milieus und Lebensstilen aufgetaucht. Das heißt laut Hettling aber auch, dass der gesicherte äußere Rahmen einer neuen Bürgerlichkeit nur durch wenige und abstrakte Formen zusammengehalten werden kann, denn es gibt immer mehr Mitglieder im gemeinsamen Wertehimmel.

Dennoch: Es gebe etwas, das wir vom historischen Bürgerideal lernen könnten, nämlich die Fähigkeit, mit der Frage "Wie können wir leben?" leben zu können und eventuell auch eigene Antworten zu finden.
Eignet sich der neue Bürger als "Retter"?
Aber auch wenn die neue Mitte breit ist, bleibt sie nur ein Teil der Gesellschaft. Und genau das wird in der Diskussion um die "neue Bürgerlichkeit" gern übersehen, meint zumindest Karl-Siegbert Rehberg in seinem Beitrag. Die Quasi-Klassenlosigkeit, die zunehmende Individualisierung - all das seien in erster Linie Phänomen des Mittelstands.

Außerdem mute es mitunter fast zynisch, an von den Idealen der "neuen Bürgerlichkeit" zu sprechen, während die Arbeitslosenzahlen steigen und Teilzeit- und prekäre Anstellungsverhältnisse laufend zunehmen.

Der "neue Bürger" mit seinen frisch erwachten Interessen an Manieren, an einem Bildungskanon und der Familie gilt jedoch quasi als "Retter" in der Krise. Zudem hätten bürgerschaftliche Initiativen, die letztlich auch den Fall des Eisernen Vorhangs zwischen West- und Osteuropa mitverursacht haben, eine Hoffnung auf schon verloren geglaubte Tugenden geweckt.
Klassenbewusstsein in neuem Gewand?
Auf der anderen Seite gebe es eben auch starke kulturpessimistische Tendenzen, die mit der "neuen Bürgerlichkeit" einher gehen. Das zeigt das stärker werdende Distinktionsbedürfnis - die Wiederentdeckung der "Unterschicht", die in zunehmendem Maß aus dem Ausland zugwanderte Menschen beheimatet. Die Klage über den Untergang der kulturellen Lebenswelt sei zwar nichts Neues, aber man hört sie wieder häufiger.

Geblieben sind laut Rehberg bürgerliche Existenzinseln in einer Gesellschaft des Massenkonsums. Gleichzeitig komme es zu einer prekären Flexibilisierung des Mittelstands, bei gleichzeitiger Inszenierung einer schützenden Bürgerlichkeit. Da stellt sich tatsächlich die Frage: Handelt es sich bei der vielbeschworenen "neuen Bürgerlichkeit" um ein reines Ausstattungstheater oder um eine modernisierte Utopie?

Eine eindeutige Antwort darauf haben auch die Experten nicht parat. Was immer der "neue Bürger" auch sein könnte, ein ausschließlich an traditionellen Mustern orientiertes "wertvolles" Leben mag für manche eine Option sein, für die meisten geht es vermutlich an der realen Lebenswelt deutlich vorbei.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 7.9.09
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01.01.2010