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Nahm Paul Kammerer die Epigenetik vorweg?  
  Der österreichische Biologe Paul Kammerer glaubte in den 1920er Jahren, die Vererbung erworbener Eigenschaften bewiesen zu haben. Eine Studie zeigt nun: Vielleicht hatte er damit sogar recht.  
Skandal und Selbstmord
"Ich sehe mich außer Stande, diese Vereitelung meiner Lebensarbeit zu ertragen und hoffentlich werde ich Mut und Kraft aufbringen, meinem verfehlten Leben morgen ein Ende zu bereiten." Am 23. September 1926 nahm sich der österreichische Biologe Paul Kammerer das Leben. Grund für die Verzweiflungstat war ein Forschungsskandal, in dem er, Kammerer, die Hauptrolle gespielt hatte und binnen kurzer Zeit vom Weltstar der Biologie zum Betrüger degradiert worden war.

Kammerer war einer jener Forscher, die dem Darwinismus äußerst kritisch gegenüber standen und stattdessen an die Vererbung erworbener Eigenschaften - ein Prinzip das einst J.B. de Lamarck erdacht hatte - für richtig hielten. Kammerer freilich beließ es nicht beim Glauben, sondern versuchte das Prinzip via Experiment zu beweisen. Beim blinden Grottenolm regte er etwa durch Rotlicht-Bestrahlungen die Bildung funktionstüchtiger Augen an. Ein Ergebnis, das zumindest von der Presse als eindrucksvolle Bestätigung des Lamarckismus interpretiert und mit entsprechend bombastischen Schlagzeilen versehen wurde.
"Der zweite Darwin"
Bild: Public Domain
Paul Kammerer
Der "Daily Telegraph" titelte etwa: "Auf dem Weg zum Supermenschen. Großartige Entdeckung eines Wissenschaftlers kann uns alle verändern. Genie vererbbar. Augenlosen Tieren wachsen Augen." Selbst in der eher zurückhaltenden "New York Times" wurde Kammerer als "zweiter Darwin" bezeichnet, der dort Erfolg gehabt habe, wo der große Brite gescheitert war. Doch bald danach folgte der tiefe Fall. 1926 reiste der US-Biologe Gladwyn Noble nach Wien und untersuchte das letzte verbliebene Präparat einer Geburtshelferkröte, mit der Kammerer ähnlich spektakuläre Versuche unternommen hatte.

In diesen hatte er nachgewiesen, dass den Kröten erbliche Brunstschwielen wachsen, sofern sie gezwungen werden, sich dauerhaft im Wasser aufhalten. Noble zeigte allerdings, dass es sich - zumindest bei diesem einen Exemplar - um eine plumpe Fälschung handelte. Die dunkel pigmentierten "Schwielen" entpuppten sich als unter die Haut gespritzte Tinte.
These: Wiener Proto-Epigentik
Nun hat der chilenische Biologe Alexander Vargas Kammerers alte Laborbücher unter die Lupe genommen und behauptet: Die Resultate seiner Kreuzungsexperimente erinnern frappant an Phänomene aus der sogenannten Epigenetik. Dieses Forschungsgebiet ist erst vor kurzem entstanden und widmet sich chemischen Modifikationen auf der DNA, die unter Umständen auch an die Nachkommen weitergegeben werden. Im Prinzip also Vererbung erworbener Eigenschaften auf molekularem Niveau. Sukkus von Vargas' Studie im "Journal of Experimental Zoology": Es könnte sein, dass Kammerer mit seinen umstrittenen Versuchen tatsächlich die Epigenetik vorweggenommen hat.

Man sollte sich die Sache jedenfalls nochmal genauer ansehen: "Neue Experimente mit den Werkzeugen der Molekularbiologie könnten die Kontroverse nun zu einem Ende bringen. Wenn Kammerers Daten stimmen, dann hat die Geburtshelferkröte das Potenzial ein exzellentes Modellsystem zu werden - für die Epigenetik und ihre evolutionären Implikationen." In einer Frage werden allerdings auch die Molekularwerkzeuge der modernen Labors nicht weiterhelfen: Ob die plumpe Fälschung von Kammerer selbst stammte oder aber von Leuten, die ihm schaden wollten, ist bis heute unbekannt.

Robert Czepel, science.ORF.at, 3.9.09
->   Journal of Experimental Zoology
->   Paul Kammerer
 
 
 
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01.01.2010