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Eine Suche nach den Wurzeln des Autismus  
  In Medizinerkreisen gilt es zunehmend als Epidemie. Verängstigte Eltern, die in wachsender Zahl in die Kliniken mit Kindern kommen, die seit Monaten kein Wort gesprochen haben oder die nur durch die Berührung von Kleidung auf der Haut schmerzverzehrt aufschreien. Diese Kinder scheinen in einer Welt gefangen, in die niemand vorzudringen vermag. Die Diagnose lautet: Autismus.  
Die wachsende Zahl an diagnostizierten Autismus-Fällen hat in etlichen Staaten eine neue Diskussion über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten entfacht. Kathleen Wrong, Herausgeberin von 'California Wild', dem Magazin der 'California Academy of Sciences', hat jetzt einige Experten zum Thema Autismus interviewt und neue Wege in der Bekämpfung der Krankheit in der aktuellen Ausgabe von 'Nature' ausgelotet.
Als Randerscheinung abgetan
Mitte der Siebziger Jahre wurde Autismus als seltene Krankheit angesehen. Man dachte, dass gerade drei von 10.000 Kindern davon betroffen sind. Neuere Studien sehen einen Anstieg der Betroffenen von über 40 Prozent. Die Hoffnung, dass man Antworten auf die Fragen leidender Eltern findet, sind laut Kathleen Wrong aber größer denn je.
Komplexes Verhalten
Autismus kann als paradoxe Störung betrachtet werden. Über drei Viertel der Menschen mit autistischen Verhaltensweisen sind geistig behindert, eine kleinere Gruppe verfügt hingegen über teilweise bemerkenswerte künstlerische oder mathematische Fähigkeiten. Manche sind extrem schmerzempfindlich, andere reagieren sehr stark auf Berührungen jeder Art.

Patienten mit milderen Ausprägungsformen von Autismus haben oft erstaunliche verbale Fähigkeiten, während stark Betroffene teilweise unfähig sind zu sprechen. "Es ergibt sich daraus ein sehr heterogenes und teilweise widersprüchliches Krankheitsbild", so Kathleen Wrong.
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Autismus - die Diagnose
Gemeinsam ist allen Formen des Autismus die gestörte Beziehung der Kinder zur dinglichen und personellen Umwelt: Die Kinder sind in sich gekehrt, reagieren nicht wie "normale" Kinder auf Ansprache und Umweltreize, sie sprechen meist kaum und bauen keine Beziehung zu Eltern oder Geschwistern auf. Als Ursache kommen gehirnorganische Schäden, die zu Funktionsstörungen im zentralen Wahrnehmungsapparat führen, in Frage. Psychologische Faktoren, etwa eine gestörter Mutter-Kind-Beziehung, werden heute als Ursache eher ausgeschlossen. Der frühkindliche Autismus macht sich schon vor dem dritten Lebensjahr bemerkbar; die Sprachentwicklung ist eingeschränkt oder unterbleibt ganz, die Intelligenz ist deutlich eingeschränkt, oft auch in verschiedenen Leistungsbereichen unterschiedlich entwickelt; eine Entwicklungsmöglichkeit ist zwar gegeben, doch bleibt meist ein gewisses Defizit bestehen.
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Erschwerte soziale Interaktion
Offenkundig sind die Probleme von Autisten im Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie die Tendenz, für bestimmte Dinge ein obsessives Interesse zu entwickeln. Beobachtet werden autistische Verhaltensstörungen schon bei Babys. Autistischen Neugeborenen fehlt die angeborene Präferenz, die Aufmerksamkeit eher auf Gesichter als auf Gegenstände richten.

Viele autistische Kinder entwickeln die Fähigkeiten zum Verständnis von Gesichtsausdrücken und nonverbalem Verhalten nicht. Gehirn-Bildgebungsverfahren haben gezeigt, dass autistische Kinder visuelle Information über Gesichter in den selben Gehirnregionen verarbeiten, in denen sie auch die Informationen über Gegenstände auswerten.

Darüber hinaus scheinen autistische Kinder nicht in der Lage zu sein, aus dem Gesagten oder den Taten Anderer Information zu gewinnen bzw. Rückschlüsse auf Ab- oder Einsichten Anderer zu schließen.
Masern- und Röteln-Impfstoff als Ursache?
Die gesteigerte Aufmerksamkeit bezüglich Autismus spiegelte sich auch im Auftreten neuer Forschungs- und Behandlungsansätze. 1998 beschrieb der Mediziner Andrew Wakefield einen Aufsehen erregenden Zusammenhang zwischen Autismus und den Impfstoffen gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR).

Er beschrieb die Fälle von 12 Kindern, die MMR-Impfungen im Alter von 15 bis 18 Monaten erhalten hatten, und danach grundlegende soziale und sprachliche Fähigkeiten verloren und als autistisch diagnostiziert wurden. Nachfolgende Studien konnten allerdings keinerlei tieferen Zusammenhang zwischen MMR-Impfungen und Autismus feststellen. Doch die Theorie ist weiter im Gespräch.
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Autismus - die Erscheinung
Die autistische Persönlichkeitsstörung wird oft spät auffällig; manche Kinder beginnen früh zu sprechen, die Intelligenz ist oft nicht beeinträchtigt, manchmal überdurchschnittlich, doch zeigt sich eine deutliche Abkehr von Umwelt und Mitmenschen; die autistischen "Psychopathen" bleiben zwar "schwierig", meistens gelingt ihnen aber eine gute berufliche Eingliederung, oft sogar mit überdurchschnittlichen Leistungen. Vom kindlichen Autismus zu trennen ist der Begriff des Autismus im Sinne einer "Zurückgezogenheit auf sich selbst", eines Verlusts des normalen Realitätsbezugs, wie er vor allem für die Schizophrenie kennzeichnend ist, und der Bereich von Verhaltensstörungen, der allein durch gestörte Kontaktfähigkeit charakterisiert ist.
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Wieder einmal die Gene
Abseits der Sicherheit mancher Impfstoffe glauben viele Ärzte, dass der Schlüssel zum Verständnis von Autismus in den so genannten "Leidens-Genen" liegt. Eine Zwillings-Studie ergab den bisher stärksten Hinweis auf eine wesentliche Rolle solcher Leidens-Gene bei der Entstehung von Autismus.

Leidet einer der beiden eineiigen Zwillinge an Autismus, liegt die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung des anderen bei über 60 Prozent. Bei zweieiigen Zwillingen sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung auf 10 Prozent.

Eine Untersuchung der Vererbbarkeit von Autismus deutet auf eine Involvierung von bis zu 10 Genen in der Entstehung autistischer Symptome hin. Feststellen konnten Forscher spezifische Abnormitäten am Chromosom 7 und 15, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden. Manche Wissenschaftler glauben an eine eindeutige Identifizierung eines oder mehrerer Autismus-Gene in den nächsten fünf Jahren.
Die psycho-physiologischen Theorien
Eine weniger technisch orientierte Hypothese konzentriert sich eher auf die Entwicklungsaspekte, die mit Autismus verbunden sind. Autistische Kinder haben teilweise längere Ringfinger als Indexfinger. Das wird auf hohe Testosteron-Konzentrationen in der Gebärmutter zurückgeführt.

Diese Ergebnisse unterstützen auch die so genannte 'extreme-male-brain'-Theorie von Simon Baron-Cohen. Der Psychologe der Cambridge University und seine Kollegen argumentieren, dass viele Autismus-Symptome extreme Versionen normaler Geschlechtsdifferenzen zwischen Männern und Frauen darstellen. Männer zum Beispiel scheinen bei räumlicher Orientierung besser abzuschneiden als Frauen. "Autisten übertreffen diese Ergebnisse aber noch bei weitem", so Kathleen Wrong.

Ein ähnlicher Trend kann bei einer Reihe verschiedener Verhaltens- wie biologischer Eigenschaften, die geschlechtsspezifisch unterschiedlich sind, beobachtet werden, von der Größe bestimmter Gehirnregionen angefangen bis zum Alter, in dem Kinder sprachliche Fähigkeiten entwickeln.
Erfolgreiche Therapien
Ein beachtenswertes Therapiemodell hat laut Kathleen Wrong der Entwicklungspsychologe Robert Koegel von der University of California in Santa Barbara entwickelt. Sein Programm versucht, autistische Kinder dazu zu bringen, Fragen zu stellen, statt "nach Aufmerksamkeit zu schreien", wie es Kathleen Wrong beschreibt. Die Kinder sollen hervorstechende Eigenschaften von Objekten beschreiben lernen, statt sich in irrelevanten Details zu verlieren.

Koegel versucht die Kinder zu motivieren, Aufgaben nach ihren Interessen auszuwählen. Zum Beispiel lernen Tier-fixierte Kinder Größenordnungen an Hand von unterschiedlich großen Tieren zu beschreiben und verstehen.

Erste Erfolge geben Koegel recht. Doch werden viele weitere Studien notwendig sein, um das komplexe Krankheitsbild des Autismus besser verstehen und behandelbar zu machen. Viele betroffene Kinder und mit-leidende Eltern warten darauf.

(red)
->   Autismus-Forschungszentrum an der University of California, Santa Barbara
->   Autism Research Institute
->   The epidemiology of autism: a review, Institute of Psychiatry, London
Ausführlicher Artikel in Nature (kostenpflichtig)
Unter dem Titel " The search for autism's roots"( Nature 411, 882 - 884 2001; kostenpflichtig)
->   Ausführlicher Hintergundbericht in Nature
->   The Autism Research Foundation
 
 
 
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01.01.2010