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Mikrophone gegen Gerölllawinen  
  Bei Hochwasser verwandelt sich mancher Gebirgsbach in eine Gerölllawine. Österreichische Wissenschaftler rücken diesen nun mit Mikrophonen zu Leibe.  

Für die Bewohner alpiner Regionen stellen Wildbäche eine existentielle Bedrohung dar. Binnen Minuten kann sich ein liebliches Rinnsal in eine Dampfwalze aus Geröll verwandeln.

Österreichische Wissenschafter arbeiten jetzt an einem revolutionären Frühwarnsystem: Sie belauschen den Bach. Hochsensible Messgeräte erkennen die Geräusche, die einer Mure vorausgehen.
Es begann mit einer Katastrophe....
Sommer 1997: Innerhalb von knapp einem Monat wurde die 2.000-Seelen-Gemeinde Nußdorf-Debant in Tirol gleich zweimal vom Hochwasser heimgesucht. Starke Regenfälle hatten aus dem nur wenige Zentimeter breiten Wartschenbach eine reißende Gerölllawine gemacht.

Die Folge: der halbe Ort wurde unter Schlamm und Gesteinsmassen begraben. Meterhoch wurden Häuser mit Erdmassen angefüllt, Autos wurden einfach zugeschüttet. Der Schaden ging in die Millionen.
Freiluftlabor in Tirol
Als Folge der Katastrophe begann man zunächst mit baulichen Maßnahmen an der Entschärfung des Wildbachs zu arbeiten. Doch damit nicht genug. Der Tiroler Wartschenbach wurde zum europaweit vielbeachteten Freiluftlabor für neue Warnsysteme der Wissenschaft.
Lauschangriff am Wartschenbach
Sie sind zwar auffallend gelb, doch unauffällig klein:
die Geophone, mit denen die Wissenschafter der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) den Bach belauschen wollen.

Die wenige Zentimeter großen High-Tech-Messgeräte werden an Felsen oder Brücken angebracht. Sie registrieren feinste Schwingungen und Erschütterungen. Ein Wildbach, der durch das mitgeführte Geröll zu einer Mure wird, ist für das sensible Messgerät schlicht unüberhörbar.
Auditives Frühwarnsystem
Und das nicht erst, wenn die Mure den Messpunkt erreicht hat, sondern schon Hunderte Meter bachaufwärts. Das Geophon der Forscher ist wie ein Ohr, das man auf die Schienen presst, um einen Zug zu erkennen, bevor er sichtbar ist.

Hannes Hübl vom Institut für Wildbach und Lawinenforschung sieht in den Geophonen die derzeit besten Alarmeinrichtungen. "Wir haben uns von guten Erfahrungen bei amerikanischen Vulkanen, die eine sehr hohe und gefährliche Murentätigkeit haben, leiten lassen."
Zusatz-Messung mit Ultraschall
Eine Schwierigkeit haben die Forscher allerdings: die Schwingungen der Geräte müssen richtig interpretiert werden. Dazu sind in der Nähe der Geophone auch noch Ultraschall-Messgeräte angebracht. Sie sind besonders exakte Entfernungsmesser und geben permanent Daten über den Wasserstand ab.

So können die Forscher die Aufzeichnungen der Geophone kalibrieren. Derzeit sind 5 Geophone und Ultraschall-Messgeräte am Wartschenbach installiert.
Datenabruf per Handy und Laptop

Die Daten laufen in die Zentrale der Wildbach-Behörde in Lienz, sie lassen sich aber bereits über Handy und Laptop abrufen. So haben Experten auch vor Ort die aktuellen Messdaten bereit, die Hunderte Meter oberhalb gerade gewonnen werden.

Mit den derzeitigen Messeinrichtungen wissen die Forscher 10 Minuten vorher, dass die Mure kommt. 10 Minuten also haben die Bewohner von Nußdorf-Debant im Notfall Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.
Der Bach im Speed-Rausch
Was recht wenig klingt, ist angesichts der Katastrophe ein beachtlicher Polster. Denn eine Mure hat vom Zetersfeld, dem Skigebiet oberhalb von Lienz aus, nur 1.100 Höhenmeter zurückzulegen ¿ eine Sache von Minuten!

Im ersten Steilstück mit etwa 60 Prozent Gefälle erreicht die Walze aus tonnenschweren 30.000 Kubikmetern Geröll schon einen Top-Speed von 10 Metern pro Sekunde, also 36 Kilometer pro Stunde, in flacheren Gleitstücken etwa die Hälfte.
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Muren sind wie Zahnpasta
Die Erforschung der Physik von Murgängen steht weltweit erst am Anfang. Die Messeinrichtungen am Lienzer Wartschenbach liefern deshalb wichtige Daten für die Grundlagenforscher. Erst mithilfe der Ultraschallmessungen können jetzt die Modelle von Murgängen verifiziert werden. Plakative Erkenntnis von Hannes Hübl von der Universität für Bodenkultur: "Am besten lässt sich ein Murgang mit Zahnpasta oder Ketchup simulieren, Zahnpasta für die etwas festeren Muren, Ketchup für die flüssigeren."
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Niederschlags-Waage alarmiert Forscher
Obwohl die Messsysteme am Wartschenbach internationale Beachtung finden, hat das Forscherteam im Auftrag des Forstministeriums längst die nächste Entwicklungsstufe begonnen: am 1.800 Meter hohen Zetersfeld wurde vorletzte Woche eine hochmoderne Niederschlags-Waage eingerichtet.

Zwar ist der Zusammenhang zwischen Niederschlagsmenge und Murentätigkeit noch nicht gänzlich erforscht, aber die Wissenschaftler haben bereits eine kritische Grenze geortet:
gibt es an der Messstation am Zetersfeld 30mm Niederschlag innerhalb einer Stunde, löst das System Alarm aus.
So kann die Vorlaufzeit noch besser genutzt werden.
Feuerwehren und die Wildbach-Experten werden in Bereitschaft versetzt und beobachten die Daten die aus den Messgeräten kommen. Der Lauschangriff am Wartschenbach findet dann vor versammeltem Fachpublikum statt.

Tom Matzek, Modern Times
->   BOKU Institut für Wildbach und Lawinenforschung
 
 
 
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01.01.2010