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Die Stief-Familien als Forschungsprojekt  
  Immer mehr Familien bestehen nicht nur aus Vater, Mutter, Kind, sondern aus Stiefeltern, Halbgeschwistern oder Freunden. Die Schwierigkeiten, die mit so genannten "Fortsetzungsfamilien" verbunden sind, untersucht das kulturwissenschaftliche Forschungsprojekt "Beziehungskulturen abseits der Norm".  
Das Zusammenleben von Vater, Mutter und (leiblichen) Kindern unter einem Dach gilt immer noch als gesellschaftliches Ideal. Ihm folgen junge Menschen, wenn sie - mit oder ohne Trauschein - eine erste Beziehung eingehen.
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Gastbeitrag von Reinhard Sieder
Der Autor dieses Artikels, Reinhard Sieder unterrichtet am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und arbeitet zu den Bereichen Geschichte der Familie, Alltagsgeschichte, Arbeitergeschichte, Koch- Eß- und Trinkpraktiken seit 1945, Jugend(sub)kulturen uvm. Im Rahmen einer Kooperation des "Forschungsschwerpunkts Kulturwissenschaften/Cultural Studies" mit science.orf.at stellt er sein Projekt "Beziehungskultur abseits der Norm" vor.
->   Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien
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Jede zweite Ehe scheitert
Doch in der Großstadt scheitert jede zweite Ehe, jede dritte landesweit. Die Familie spaltet sich in zwei Haushalte auf. Meistens bleiben die Kinder bei den Müttern; mit den Vätern verbringen sie einzelne Tage, Wochenenden und Urlaube.
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Die Zahl der Geburten sinkt oder stagniert, immer mehr Menschen entscheiden sich, keine Kinder zu haben. Aber viele von denen, die sich für Kinder entscheiden, sind die engagiertesten Eltern, die es je gab. Nie zuvor haben sich Frauen und Männer so viel persönliches Glück von ihren Kindern versprochen, derart viel an Gefühlen, an Zeit und Geld in ihre Kinder investiert.
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Die "Fortsetzungsfamilie" als neues Modell
"Familie" ist vom häufigen Scheitern der Ehen und Partnerschaften betroffen, doch endet sie nicht schon mit der Trennung des Paares. Verantwortliche Elternschaft verbindet viele Getrennte und Geschiedene, solange die Kinder ihrer Sorge bedürfen.

Gehen die Expartner neue Bindungen ein, aus denen auch weitere Kinder hervorgehen können, bildet sich neues Familienleben in Form der so genannten "Fortsetzungsfamilie".
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Kind als Bindeglied von Expartnern
"Fortsetzungsfamilien" unterscheiden sich von "ersten Familien", da die Kinder nun auch mit Erwachsenen zusammenleben, die nicht ihre leiblichen Väter oder Mütter sind. Über das Kind unterhält der Mann oder die Frau, oder unterhalten beide eine "Restbeziehung" zum Expartner. Sie kann freundschaftlich, aber auch feindselig sein.
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Konflikte beeinträchtigen "Fortsetzungsfamilie"
Oft gelingt es nicht, Kinder nach der Trennung aus fortgesetzten Konflikten herauszuhalten. Kinder werden dazu missbraucht, Expartner auszuhorchen oder zu bestrafen. Solche Konflikte beeinträchtigen die "Fortsetzungsfamilie". Der Kampf zwischen den verfeindeten Expartnern kann neue Chancen zerstören.
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Chance auf "Familienglück"
Gelingt es hingegen, Trennung und Scheidung ohne schwere Verletzungen und Feindseligkeiten zu überstehen, kann beiden Expartner ein neues Familienleben gelingen, dann haben sie eine Chance auf "Familienglück".
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Pendelnde Kinder müssen flexibel sein
Pendeln Kinder regelmäßig zwischen zwei Haushalten, müssen sie lernen, sich flexibel an die Gewohnheiten und Stile anzupassen, profitieren aber auch davon: Sie gewinnen enge Beziehungen und soziale Kompetenzen hinzu.
Forschungsprojekt untersucht Anforderungen
Welche Leistungen hier von allen beteiligten Erwachsenen und Kindern erbracht werden und welche Fähigkeiten dazu erforderlich sind, untersucht dieses Forschungsprojekt.
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Forschungsprojekt "Beziehungskulturen abseits der Norm"
Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur untersucht das laufende Forschungsprojekt, warum es den einen recht gut gelingt, in einer Fortsetzungs- oder in einer Einelternfamilie zu leben, für andere aber schwierig oder unmöglich wird. Sozialwissenschaftler und Psychologinnen führen dazu intensive Gespräche ("narrative Interviews") mit allen Beteiligten. Zur Sprache kommt, wie Eltern und Kinder den Verlust eines Partners oder eines Elternteils bewältigen, welche Hoffnungen sie in das neue Zusammenleben setzen und was sie davon realisieren.
->   Ausführliche Projektbeschreibung zu "Beziehungskulturen abseits der Norm"
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Erste Ergebnisse...
Frauen, Männer und Kinder in "Fortsetzungsfamilien" sind sehr gefordert, manche sind auch überfordert. Sie müssen Klischees überwinden und Verantwortung für nicht-leibliche Kinder übernehmen.

Sie müssen auch herausfinden, wie sie ihre Partner-Beziehung und die Beziehung zu nichtleiblichen Kindern am besten gestalten: Soll etwa ein neuer Partner der Mutter versuchen, wie ein Vater zu sein, wenn das Kind seinen leiblichen Vater regelmäßig sieht?
Anforderungen an Kinder und Jugendliche
Kinder und Jugendliche müssen lernen, mit hinzukommenden Halbgeschwistern zu leben, ihr Zimmer, ihr Spielzeug zu teilen...

Kommt in einer Fortsetzungsfamilie ein leibliches Kind des Paares zur Welt, bindet es Mann und Frau enger aneinander und schafft auch zwischen den Kindern aus verschiedenen Ehen / Beziehungen mehr Geschwisterlichkeit.
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Bedrohung durch Halbgeschwister?
Die Furcht, "Halbgeschwister" könnten für die älteren Kinder, die schon die Trennung der Eltern erleben mussten, bedrohlich werden, bestätigt sich meistens nicht.
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Probleme, die entstehen können
Doch es gibt nicht nur Gewinner. Manche fühlen sich als "Verlierer", an den Rand des Familienlebens gedrängt. Kinder boykottieren den neuen Partner der Mutter, weil sie ihrem Vater die Treue halten wollen.

Allein erziehende Mütter leiden unter dem Gerede, es fehle ihnen die Fähigkeit, ein Kind ohne den Vater gut zu "erziehen". Manche wollen ihrem Kind erst gar keinen neuen Partner zumuten; andere überfordern es mit ihren Versuchen, eine neue Beziehung aufzubauen.

Reinhard Sieder, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
->   Forschungsschwerpunkt Kulturwissenschaften / Cultural Studies:
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Literatur von Reinhard Sieder zu diesem Thema
Besitz und Begehren, Erbe und Elternglück. Familien in Deutschland und Österreich, in: Geschichte der Familie, herausgegeben von André Burguière u.a., Band 4: Das 20. Jahrhundert, S. 211-284. (Campus)

Von Patriarchen und anderen Vätern. Männer in Familien nach Trennung und Scheidung, in: Im Inneren der Männlichkeit. Band 2000/3 der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (OeZG), Wien 2000, S. 83-107. (turia+kant)

Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften

Getrennt und doch gebunden. Vater-Kind-Beziehungen nach Trennung und Scheidung, in: Gerda Klammer u. Belina Mikosz (Hg.), Psychologie in der Jugendwohlfahrt. Konzepte, Methoden, Positionen. Wien 2001, S. 50-64 (WUV / Universitätsverlag)
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01.01.2010